Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Schlammschlacht in Westminster
Premier Johnson und dessen Ex-berater Cummings überhäufen sich mit Vorwürfen.
LONDON (dpa) Vor einigen Wochen erst war im politischen London etwas Ruhe eingekehrt nach Monaten des Chaos um fehlende Corona-tests, Schutzausrüstung und verschleppte Lockdowns. Das britische Impfwunder und die dank konsequenter Maßnahmen massiv gesunkenen Infektionszahlen brachten die Regierung von Boris Johnson in ruhigeres Fahrwasser – und sorgten für ein Umfragehoch.
Doch als bräuchte es eine äußere Krise, um die Regierung im Innern zusammenzuhalten, brach in London in der vergangenen Woche ein beispielloser Sturm los. Johnson sah sich am Montag gezwungen, Berichte zu dementieren, wonach er im vergangenen Jahr gesagt haben soll, lieber nehme er in Kauf, dass sich „die Leichen zu Tausenden auftürmen“als einen weiteren Lockdown einzuführen.
Es begann mit Presseberichten über die zweifelhafte Nähe von Kabinettsmitgliedern zu Lobbyisten. Bald war auch Johnson im Visier der Enthüllungen, die offenbar von Insidern an die Medien getragen wurden. Ganz Westminster rätselte, wer dahintersteckte. Als der Inhalt von Textnachrichten zwischen Johnson und dem Staubsauger-unternehmer James Dyson an die BBC durchsickerte – es ging um die Umgehung von Steuern bei der Herstellung dringend benötigter Beatmungsgeräte – zeigte der Regierungsapparat hinter den Kulissen auf Ex-berater Dominic Cummings.
Eigentlich hatten viele gehofft, mit dem Ausscheiden des Brexit-strategen und politischen Strippenziehers Cummings im Dezember vergangenen Jahres kehre ein konstruktiverer Geist in den Regierungssitz in der Downing Street ein. Gemunkelt wurde damals, sein Ausscheiden sei ein Resultat eines internen Machtkampfs mit der einflussreichen Verlobten Johnsons, Carrie Symonds.
In einem recht unscheinbar wirkenden Blogeintrag packte Cummings nun aus. Glaubt man Cummings, hat Johnson seinen früheren Vertrauten nicht nur zu Unrecht beschuldigt, sondern auch versucht, seiner Verlobten zuliebe interne
Untersuchungen zu stoppen und die unter deren Leitung durchgeführten luxuriösen Renovierungsmaßnahmen in seiner Dienstwohnung auf zwielichtigem Wege zu finanzieren. Kurze Zeit später folgten Medienberichte über Johnsons angebliche Äußerung über die Leichenberge – diesmal ohne klare Quelle, doch selbst die ehrwürdige BBC berichtete so selbstbewusst darüber, als gebe es keine Zweifel.
Glaubt man der offiziellen Linie der Downing Street, sind all diese Vorwürfe Lügen. Ein Ende der Schlammschlacht ist nicht in Sicht. Längst gibt es Gerüchte, Cummings habe Tonaufnahmen aus seiner Zeit in der Downing Street, mit womöglich noch brisanteren Enthüllungen. Zudem soll er in einem Monat vor einem Parlamentsausschuss aussagen – er werde Fragen zu all diesen Themen beantworten, „so lange wie es die Abgeordneten wünschen“.
Fraglich ist, ob es dem Premierminister schaden wird. Johnson hat sich als resistent gegen Skandale erwiesen. Als im vergangenen Jahr die Beatmungsgeräte knapp wurden und die britische Regierung Unternehmen zu Hilfe aufforderte, soll er in einer Telefonschalte mit Dutzenden Firmenchefs gescherzt haben, man könne den Aufruf als „Operation Last Gasp“(Operation letzter Atemzug) bezeichnen. Damals machte er sich jedoch noch nicht die Mühe, dies zu dementieren.