Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Sterben, weil kein Arzt kommt
ANALYSE Die Länder Osteuropas haben mit hohen Todeszahlen weltweit eine besonders schlechte Corona-bilanz. Der Hauptgrund: Die Versorgung ist schlecht. Viele Mediziner und Pf legekräfte haben sich Jobs im Westen gesucht.
Tragödie“, „großes Sterben“oder sogar „Massaker“: Das sind die Begriffe, mit denen Mediziner nicht nur in Indien die aktuelle Corona-lage beschreiben. Ähnlich dramatisch stellt sich die Situation in vielen Ländern Osteuropas dar. Zum Beispiel in Ungarn. „Wenn sich nicht bald etwas ändert, wird sich Europa später nicht an das italienische Bergamo, sondern an eine ungarische Stadt als Beispiel für die Zerstörungswut des Virus erinnern“, zitierte das Nachrichtenmagazin „HVG“kürzlich einen Budapester Arzt. Ein Blick auf die Zahlen bestätigt das. Gemessen an der Bevölkerungsgröße steht Ungarn bei den Covid-19-toten weltweit an der Spitze. Die Quote beläuft sich auf 2,8 Todesfälle pro 1000 Einwohner.
Damit hat das Land inzwischen sogar Tschechien überholt (2,72), das lange trauriger „Weltmeister“war. In Deutschland beläuft sich der Wert auf 0,98, im leidgeprüften Indien auf 1,45. Der Blick auf die Statistik verrät aber noch mehr über die Lage in Europa: Die hohen Todeszahlen in Ungarn und Tschechien sind kein Zufall. Denn in der Rangliste folgen nach dem Kleinstaat San Marino mit Bosnien-herzegowina, Montenegro, Bulgarien, Nordmazedonien und der Slowakei fünf weitere Länder im Osten des Kontinents. Dann erst taucht mit Belgien der erste westeuropäische Staat auf. Dagegen sind Italien, Portugal und Großbritannien, die lange mit Schreckensmeldungen die Schlagzeilen bestimmten, glimpflicher davongekommen.
Auch Polen liegt mit 1,74 deutlich vor Indien. Nicht nur Gesundheitsminister Adam Niedzielski nennt das schlicht eine Katastrophe. Zumal das Wirtschaftswunderland des Ostens lange eine vorbildliche Pandemiebilanz vorzuweisen hatte. Die Regierung in Warschau nahm viel Geld in die Hand, kaufte mehr als genug Beatmungsgeräte und errichtete im Warschauer Nationalstadion eine zusätzliche Corona-klinik. Fachleute wie der renommierte Virologe Wlodzimierz Gut urteilten noch im Sommer über die polnische Pandemiepolitik: „Ganz klar: Wir waren erfolgreich.“Doch dann rollte die zweite Welle heran. Im Herbst erreichte die Übersterblichkeit in Polen mit 97,2 Prozent den höchsten Wert in der EU.
Mit Übersterblichkeit bezeichnen Mediziner höhere Todeszahlen im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre. In Polen starben im vergangenen November etwa doppelt so viele Menschen wie im gleichen Monat der Vorjahre. Doch die dramatisch hohen Todeszahlen waren keineswegs nur auf Covid-19 zurückzuführen. Viele Patienten, die an anderen Krankheiten litten oder operiert werden sollten, gingen aus Angst vor Ansteckung oder schlechter Behandlung nicht zum Arzt oder in die Klinik. Das wiederum hat mit dem fehlenden Zutrauen in das Gesundheitssystem zu tun. Eine globale Erhebung in 26 Staaten auf fünf Kontinenten ergab kürzlich, dass das Vertrauen in die Kompetenz der Ärzteschaft in Polen weltweit am geringsten ist.
Tatsächlich hat Deutschlands östlicher Nachbar die schlechteste medizinische Versorgungsdichte in der EU. Auf 1000 Einwohner kommen dort 2,4 Ärzte. Im Eu-schnitt sind es 3,6 und in Deutschland 4,3. Bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf lag Polen vor Pandemiebeginn auf dem fünftletzten Platz in der EU. Schlechter waren mit Kroatien, Lettland, Bulgarien und Rumänien nur andere osteuropäische Staaten. Die Konsequenz ist seit vielen Jahren die gleiche: Schlecht bezahlte Ärzte und Pflegekräfte wandern ab. Fachleute sprechen von einem „Braindrain“. Gemeint ist der Verlust der besten Köpfe eines Landes durch Migration.
Wegen der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU hat der „Braindrain“in den östlichen Mitgliedstaaten längst dramatische Ausmaße angenommen. Länder wie Bulgarien oder Lettland verloren seit 1990 rund 20 Prozent ihrer Bevölkerung. In medizinischen Berufen ist der Aderlass oft noch stärker. Der Grund ist simpel: Geld. So verdient ein Internist in Deutschland oder Skandinavien etwa das Fünffache dessen, was er in seiner osteuropäischen Heimat bekäme. In der Slowakei wird deshalb bereits über höhere Auswanderungshürden für Medizinstudenten debattiert. Da ein echtes Verbot europarechtlich nicht möglich ist, sollen sich Studierende bei ihrer Einschreibung an einer slowakischen Universität dazu verpflichten, nach ihrem Abschluss im Land zu bleiben.
Unter dem Strich macht die Corona-pandemie daher einmal mehr sichtbar, was der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev unter dem Schlagwort „Migration als Kapitulation“zusammengefasst hat: Menschen gehen weg, weil sie nicht mehr an ein gutes Leben im eigenen Land glauben. Und bei denen, die bleiben, wächst so erst recht die Angst vor Entvölkerung. „In einer Welt offener Grenzen stehen die mittel- und osteuropäischen Länder heute vor derselben Bedrohung wie die DDR vor dem Mauerbau“, sagt Krastev. Auf Dauer hält er die Binnenmigration für das größte Problem in der EU überhaupt.
Das zeigt sich in der Pandemie. So pendeln täglich Tausende Pflegekräfte und Ärzte, die in Polen oder Tschechien leben und dort preiswerter wohnen, zu ihren Arbeitsstellen in Deutschland. Diese Mobilität hat den Import des Virus nach Sachsen und Brandenburg erhöht. Denn in Tschechien und Polen lag die Sieben-tage-inzidenz im ersten Quartal teilweise bei gut 800 beziehungsweise 535. Aktuell sind die Werte auf 156 und 168 gesunken. Die Impfkampagne kommt inzwischen in beiden Ländern gut voran – für die Toten zu spät.
Menschen gehen weg, weil sie nicht mehr an ein gutes Leben im eigenen Land glauben