Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Priester sind auch fehlbare Menschen“
RAINER MARIA WOELKI Der Kölner Erzbischof stellt sich selbst die Frage, ob er im Missbrauchsfall des Düsseldorfer Pfarrers D. stets richtig agierte. Erstmals äußert sich der Kardinal öffentlich zu den jüngsten Missbrauchsvorwürfen. Wir stellten unsere Fra
KÖLN Ein neuer Fall beschäftigt die Menschen im Erzbistum Köln: Das sind die Missbrauchsvorwürfe gegenüber dem Düsseldorfer Pfarrer D. Der Vorfall von 1995 wurde neu aufgegriffen, nachdem die Interventionsstelle des Erzbistums Ende 2020 einen damals betroffenen Minderjährigen identifizieren und zu einer Aussage bewegen konnte.
Wie haben Sie zunächst als Weihbischof und später als Erzbischof von Köln Pfarrer D. erlebt ?
WOELKI Sie können keinem Menschen hinter die Stirn schauen. Als Christ und erst recht als Bischof sollten Sie vom Evangelium her Menschen mit dem Blick Jesu anschauen. Das mag weltfremd oder naiv klingen, aber das sollte uns Christen ausmachen. Schrecklich wäre natürlich, wenn das ausgenützt würde. Deshalb habe ich die unabhängige Untersuchung mit objektiven Kriterien ins Leben gerufen, die zeigt, wo wir weggeschaut und Fehler gemacht haben, wo vertuscht wurde und wo wir uns um Gerechtigkeit für Betroffene nicht gekümmert haben. Wie ich den Pfarrer persönlich erlebt habe, ist unwichtig. Haben wir Fehler gemacht? Sind dadurch eventuell weitere Vergehen möglich geworden? Das sind Fragen, die mich nachdenklich machen.
Der 2001 eingeräumte Sexualkontakt mit einem 17-jährigen Prostituierten ist als Verdachtsfall nicht an die Glaubenskongregation gemeldet worden. 2015 fiel das der Interventionsstelle auf; doch erst 2018 wurde der Fall dann doch in Rom gemeldet. Warum so spät? WOELKI Vor 20 Jahren galten andere Regeln. Da musste dieser Vorfall aufgrund des Alters des Jugendlichen nicht nach Rom gemeldet werden. Heute muss es – Gott sei Dank – gemeldet werden, auch wenn es damals nach all dem, was belegbar ist, kein Missbrauch war. Jedoch können wir da immer noch besser werden. Aktuell lasse ich gerade auf Grundlage des römischen Vademecums eine diözesane Regelung erarbeiten, wonach wir uns zum Beispiel verpflichten, auch solche Fälle zu melden, die rein formal keinen
Anfangsverdacht im kirchlichen Recht begründen. Aber unabhängig davon: Keiner will sich einen Priester so auf Abwegen wirklich vorstellen. Ich auch nicht. Für mich sollen wir Priester Vorbilder sein, Christus repräsentieren. Aber als Bischof weiß ich auch sehr genau, dass das zu oft nicht klappt, dass diese auch fehlbare Menschen sind, genauso wie Sie und ich. Aber hinnehmen will ich das auf keinen Fall. Menschen sollen sich auf Priester verlassen und ihnen vertrauen können.
Das Erzbistum erklärte, Pfarrer D. habe wegen aktueller Medienberichte beurlaubt werden müssen. Wäre Pfarrer D. denn ohne diese Berichte noch im Amt?
WOELKI Das ist einfach zu erklären, aber schwer zu ertragen. Es kann sein, dass an den neuen Vorwürfen etwas dran ist, aber in einem Rechtsstaat, an dessen Regeln wir uns halten, gilt ein Mensch solange als unschuldig, bis ihm das Gegenteil bewiesen wird. Wegen dieses rechtsstaatlichen Prinzips können wir nicht aufgrund eines Verdachtes beurlauben. Als es neue Erkenntnisse gab, haben wir diese sofort an die Staatsanwaltschaft weitergegeben. Wir unternahmen in dieser Zeit nichts, auch keine Beurlaubung, damit die Staatsanwaltschaft ermitteln konnte und ein möglicher Täter nicht gewarnt würde. Als dann aber der Fall öffentlich wurde, haben wir den Pfarrer freigestellt.
Es gab immer wieder anonyme Hinweise und Gerüchte über grenzwertiges Verhalten des Pfarrers etwa gegenüber Messdienern. Haben Sie darüber mit ihm gesprochen?
WOELKI Dürfen Gerüchte anderer die Entscheidung über das berufliche Leben eines Menschen bestimmen? Wenn es um andere geht, ist jeder schnell mit Vorwürfen zur Hand, man hätte doch ahnen müssen. Wenn aber ein Gerücht einen selbst trifft, dann sagt man seinem Vorgesetzten: Höre nicht auf die Gerüchte! Das klafft im Moment unglaublich auseinander. Jede kleinste Verfehlung wird öffentlich gebrandmarkt. So fehlerlos ist niemand.
Die Hinweise mehrten sich 2010. So soll ein Volljähriger dem Erzbistum gemeldet haben, mehrfach vom Beschuldigten sexuell belästigt worden zu sein. Wohl auch darum wurde bei Manfred Lütz 2011 ein psychologisches Gutachten eingeholt, der Pfarrer D. aber die uneingeschränkte Einsatzfähigkeit in der Seelsorge attestierte. Gab es also damals schon nennenswerte Zweifel an der moralischen Verlässlichkeit des Seelsorgers?
WOELKI Ein Erzbistum ist keine Ermittlungsbehörde. 2001 haben wir den Pfarrer befragt, er hat seinen schweren Fehler zugegeben. Er hat Reue gezeigt und sich einer psychologischen Beurteilung unterzogen, die Unbedenklichkeit bescheinigte. Das ist bislang der einzig bewiesene Vorfall. Alles andere waren Gerüchte, und sie wurden vom Pfarrer vehement abgestritten. Was tun Sie jetzt als Personalverantwortliche bei der Entscheidung 16 Jahre später? Sagen Sie: „Das hängt Dir Dein Leben lang an.“Oder sagen Sie: „Du hast Reue gezeigt und Besserung gelobt, hast Dir 16 Jahre nichts zu Schulden kommen lassen und hast, wie viele meinten, eine gute Arbeit gemacht. Du bekommst eine zweite Chance.“
Die Ernennung des Pfarrers zum stellvertretenden Stadtdechanten soll auf Empfehlung des damaligen Stadtdechanten Ulrich Hennes erfolgt sein. Dennoch muss zunächst der Personalchef beim Erzbischof die Unbedenklichkeit des Kandidaten klären. Waren Sie mit der Frage der Eignung des Kandidaten konfrontiert?
WOELKI Ich muss mich auf die Empfehlung meiner Fachleute verlassen können, aber ich trage die Verantwortung dafür. Darüber habe ich viel nachgedacht. Hätte ich den nicht beweisbaren Gerüchten doch glauben sollen? Denn Beweise haben wir bis auf den heutigen Tag nicht. War es trotzdem damals ein Fehler? Oder geben wir jemandem nach 16 Jahren eine Chance und hören nicht auf die Gerüchte? Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nach wie vor nicht 100 Prozent was richtig wäre – auf Gerüchte hören und jemanden mehr oder minder lebenslang brandmarken, oder – wie vorliegend geschehen – zu sehen, dass er gute Arbeit gemacht hat, bereut und sich nichts Nachweisbares mehr hat zu Schulden kommen lassen, auf die Gefahr, dass der Nachweis vielleicht eines Tages doch gebracht wird.
Viele Gläubige sind verunsichert. Beonders die Gerresheimer Gemeinde von St. Margareta. Dort waren früher sowohl Pfarrer D. tätig als auch der unter Missbrauchsverdacht stehende, inzwischen verstorbene Pfarrer O. Planen Sie oder können Sie sich vorstellen, die Gemeinde zu besuchen?
WOELKI Ich will mit sehr vielen Gemeinden und Menschen im Bistum sprechen, auch mit St. Margareta. Corona hat bislang viele persönliche Gespräche verhindert – trotzdem habe ich bereits mit vielen Menschen gesprochen und ihnen vor allen Dingen zugehört. Sobald die Bestimmungen gelockert werden, ziehe ich los und wir werden reden, auch wenn wir uns vielleicht nicht einigen können.