Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Neujustierung heißt das Ziel
Der Programmparteitag der Liberalen arbeitet drei Tage lang mehr als 500 Anträge zur Ausrichtung der Partei ab.
BERLIN „Nie gab es mehr zu tun“, steht als Motto auf jedem Bildschirm bei diesem 72. ordentlichen Bundesparteitag der FDP. Es ist immer wieder auch ein unordentlicher, denn es ist ein digitaler, und die Liberalen erfahren drei Tage lang anhand der eigenen Kommunikation, wie sehr Deutschland immer noch ein Highspeed-entwicklungsland ist. „Nie gab es mehr zu tun“, auch für die Parteitagsregie. Denn zu dem 70-seitigen Wahlprogrammentwurf gingen weit mehr als 500 Änderungsanträge ein. Deren Abarbeitung beginnt bereits am Freitag nach den Vorstandswahlen und läuft bis in den Sonntagnachmittag hinein.
Dabei ist sich die Partei in ihrer Grundausrichtung so einig wie selten zuvor. Es muss nach Überzeugung der FDP kreuz und quer durch die Fachthemen reformiert und modernisiert werden. Nach 16 Jahren Merkel geht es nach den Worten von Generalsekretär Volker Wissing um eine generelle „Neujustierung“der Republik, um eine „Richtungswahl“, mit der darüber entschieden werde, wohin sich Deutschland entwickeln soll. Weiter in eine „blinde Staatsgläubigkeit“hinein, in der Regierungen den Bürgern Privilegien einräumten. Oder, und dafür will die FDP stehen, für mehr Freiheit, Fortschritt und Verantwortung.
„Die Grünen wollen neue Schulden machen und am liebsten mit der SPD die Steuern erhöhen“, sagt Wissing zu den beiden Parteien, mit denen die FDP eine Ampelkoalition eingehen könnte. „Wir wollen beides nicht“, fügt Wissing hinzu. Damit hat er einer Ampel die rote Karte gezeigt, die die Kernforderung der FDP nicht mitträgt. Dass er sich auch mit einer Neuauflage von Jamaika-koalitionen anfreunden könnte, gibt Parteichef Christian Lindner zu verstehen, indem er dafür wirbt, CDU und Grüne nicht alleinzulassen.
Die Abteilung Gegner-attacke lässt bei diesem Fdp-parteitag den Holzhammer in der Werkzeugkiste, beschränkt sich auf das Piksen mit dem Florett. Entsprechend freundlich sind die Kommunikationen am Rande mit der Konkurrenz. Die anderen Parteichefs gratulieren Lindner zu seiner 93-Prozent-wiederwahl auf ausgesucht höfliche Weise. Man wünscht einander einen spannenden Wahlkampf.
Der Verzicht auf aggressive Töne dürfte der FDP bei diesem Parteitag auch leichtfallen, weil sie nicht um Aufmerksamkeit kämpfen muss. Sie hat sie angesichts ihrer aktuellen Werte von zwölf Prozent – und sie misst sich wie selbstverständlich an den Grünen, die momentan um 25 Prozent gehandelt werden. Mit dem Fdp-konzept einer gesetzlich festgelegten Co2-obergrenze würden die Klimaschutzziele „garantiert und nicht nur vielleicht“erreicht, sagt Wissing. Die Fixierung der Grünen auf die Elektromobilität nennt er schädlich und zu wenig ambitioniert. Das Verbot von Verbrennungsmotoren ergebe keinen
Sinn, wenn diese mit klimaneutralen synthetischen Kraftstoffen betrieben werden könnten.
Die Lust am Gestalten überträgt die Parteispitze offenbar auf die Basis, die fast jeden Satz des Programmentwurfs neugestalten will. Oft bleibt es bei der Vorlage, wie etwa bei der Begrenzung der Zeit einer Kanzlerschaft auf zwei Legislaturperioden oder der Ausweitung dieser Perioden auf fünf Jahre. Oft gibt es jedoch auch Mehrheiten für Weitergehendes: Da will die Parteispitze den Anstieg des Rundfunkbeitrags nur verlangsamen, schon
machen die Delegierten daraus die Forderung nach einer Absenkung und Begrenzung des öffentlich-rechtlichen Programmangebots.
Es sind so viele Ideen und Vorschläge, dass es gleich zwei Programmangebote der Partei geben soll: Einen Hauptband, wie er am Sonntagnachmittag endlich beschlossen ist. Und einen Ergänzungsband, in den der Vorstand Anfang Juni viele weitere Vorstellungen hineinpacken soll, die beim Parteitag aus Zeitmangel verschoben wurden. Den umgekehrten Weg nimmt angesichts der Flugverbotsdebatte der Grünen die Forderung nach einer Klima-dividende, mit der die FDP die Einnahmen aus der Co2-abgabe wieder an die Bürger ausschütten will. Sie war ursprünglich für die Ergänzungen vorgesehen, kommt nun aber gleich ins Hauptprogramm. Dort steht sie nun neben der Komplettabschaffung des Solidaritätszuschlages im Steuerkapitel, dem Mehrwertsteuerprozentpunkt für die Bildung im Schulkapitel, die Abschaffung der Eeg-umlage im Klimaschutzkapitel und dem Kinderchancengeld im Familienkapitel. So fühlt sich die FDP nun im Wahlkampf wie der Indianer mit vielen Pfeilen im Köcher – und weiteren griffbereiten Köchern.