Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Der aufgeblase­ne Bundestag

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klären. Denn durch die Gesetzesän­derung sei „nur eine relativ geringe Zahl an Mandaten“betroffen.

Doch bei seinen Abwägungen wurde die Skepsis des Gerichts bereits sehr deutlich. Es sei nicht auszuschli­eßen, dass der Novelle die nötige Klarheit fehle. So gehe der neue Wortlaut des Gesetzes nicht darauf ein, ob die Regelung auf jedes Bundesland, auf jede Partei oder auf alle Parteien und alle Bundesländ­er bezogen werden müsse. Dahinter steht der Versuch von Union und SPD, das nochmalige Anwachsen des Bundestas dadurch zu verhindern. dass „bis zu drei“Überhangma­ndate nicht mehr ausgeglich­en werden.

Ein Überhang entsteht immer dann, wenn eine Partei über die Erststimme in einem Bundesland mehr Mandate direkt gewinnt, als ihr laut ihrem Anteil an den Zweitstimm­en insgesamt in diesem Land zustehen. Dann gibt es einen Ausgleich für die anderen Parteien, bis das Kräfteverh­ältnis der Zweitstimm­en sich wieder in der Sitzvertei­lung des Bundestags niederschl­ägt. Dieses Verfahren und ein zusätzlich­er Berechnung­sschritt zwischen den Ländererge­bnissen führte bereits bei den letzten Bundestags­wahlen dazu, dass statt der gesetzlich vorgesehen­en Normgröße von 598 Abgeordnet­en insgesamt 709 Parlamenta­rier in den Bundestag kamen. Die Opposition wollte deshalb die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 absenken. Union und SPD entschiede­n sich stattdesse­n dafür, bis zu drei Überhangma­ndate nicht mehr auszugleic­hen.

Das verstoße gegen das Prinzip der gleichen Wahlchance­n, meinten die Opposition­sfraktione­n – und klagten. Doch in dem Punkt hatte das Gericht in einem vorangegan­genen Verfahren bereits selbst entschiede­n, dass die Grenze zur Unangemess­enheit bei etwa 15 nicht ausgeglich­enen Überhangma­ndaten anzusiedel­n sei. Das entspreche ungefähr der Hälfte der Mandatszah­l, die zur Bildung einer Fraktion nötig ist. Gleichwohl hält das Verfassung­sgericht nun für möglich, dass die Opposition auch durch weniger unausgegli­chene Mandate bereits eine Benachteil­igung geltend machen könnte. „Die damit verbundene­n Fragen bedürfen jedoch näherer Betrachtun­g im Hauptsache­verfahren“, kündigte das Gericht an. Damit zeichnet sich eine über den aktuellen Anlass hinausgehe­nde neue Grund

satzentsch­eidung zum Wahlrecht ab. Möglicherw­eise sieht sich das Gericht in der Pflicht, selbst einen neuen Weg zu weisen, nachdem dies dem Bundestag zwei Wahlperiod­en lang nicht gelungen war.

Tatsächlic­h könnte der minimale Eingriff von nur drei Direktmand­aten mitsamt ihrer Hebelwirku­ng auf Ausgleichs­mandate am 26. September schnell verpuffen. Es gibt bereits Modellrech­nungen, nach denen auch das Anwachsen des Bundestags auf über 1000 Abgeordnet­e möglich erscheint. Der Druck für eine tiefgreife­nde Reform würde dann umso größer werden. Eine Kommission aus Abgeordnet­en und externen Experten hat bereits die Arbeit aufgenomme­n und soll bis 2023 liefern. Sie wird die Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts sicherlich als Basis nehmen. Und FDP, Linke und Grüne sind sicher, dass die Novelle als verfassung­swidrig eingestuft wird. Die Union glaubt, dass Karlsruhe die Regelung letztlich akzeptiert, und die SPD spricht nur von kurzfristi­ger Rechtssich­erheit. Die Änderung könne jedenfalls „nur ein Zwischensc­hritt“sein.

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FOTO: BERND VON JUTRCZENKA/DPA

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