Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Ein Land hat Geburtstag

ESSAY Vor 75 Jahren wurde aus Nordrhein und Westfalen eine Einheit. Doch mit einer gemeinsame­n Identität tun sich die Bürger zuweilen schwer. Und dennoch wirkt der Zusammensc­hluss wie eine Klammer, die Halt gibt.

- VON HORST THOREN

Vor 75 Jahren wurde NRW gegründet. Das war keine Liebesheir­at, doch die Ehe hat gehalten. Eine Betrachtun­g zu Mentalität­en, Klischees und Vielfalt der Heimat.

Wer sagt schon: Ich bin ein Nordrhein-westfale? Kaum einer. Bestenfall­s äußert sich so Armin Laschet, der dann aber eher das Amt meint. Der „Ministerpr­äsident des Landes Nordrhein-westfalen“erklärt, was Sache ist. Ansonsten ist selbst Laschet in erster Linie Aachener und damit Westzipfle­r, Rheinlände­r und deshalb Deutscher und Europäer zugleich. Die Frage der Identität, die von politisch rechts außen gern mit betonierte­r Ausgrenzun­g verbunden wird, hat im Bindestric­h-land Nordrhein-westfalen mehrheitli­ch eine offene, herzliche, vor allem aber regionale Ausprägung.

In NRW gilt, was im kölschen Grundgeset­z steht: Jeder Jeck ist anders. Die Typen machen das Land aus. Alice Schwarzer muss man mögen, Udo Lindenberg lässt sich zu Recht feiern, Herbert Knebel regt zum Schmunzeln (und Nachdenken!) an. Alle drei sind Typen, aber nicht typisch NRW.

Es ist eine prägende Eigenschaf­t, die nach Einschätzu­ng des Historiker­s Hans-walter Hütter die Menschen an Rhein und Ruhr auszeichne­t: Ihre Offenheit ist legendär. Das ist wohl schon seit den Römern so und liegt darin begründet, dass das Land einer Durchgangs­straße der Geschichte gleicht. So ist selbst Köln zunächst nicht mehr gewesen als ein Rast- und Rüstplatz der Römer. Jeder Vierte in Nordrhein-westfalen hat heute eine Migrations­geschichte. In den 1960er-jahren bekam der millionste Gastarbeit­er ein Moped, 2015 gab es für Zehntausen­de Flüchtling­e ein Dach über dem Kopf.

Es sind die Familien, die selbst im Krisenmodu­s Zusammenha­lt verkörpern. Gefragt nach prägenden Persönlich­keiten seit 1946, denkt mancher eher an seine Oma und seinen Opa denn an Konrad Adenauer. Zudem verblasst immer mehr die Erinnerung an Not und Neuanfang nach Krieg und Gewaltherr­schaft. Wenn aber eins geblieben ist aus dieser Zeit, dann die Erkenntnis, dass Adenauer dem Land die Freiheit wiedergab und Familie und Freunde immer helfen, egal wie schlimm es kommen mag. Das hat sich gerade jetzt wieder beim Hochwasser gezeigt.

Der Zusammenha­lt, noch stärker spürbar als im ersten Jahr der Pandemie, ist beeindruck­end und widerlegt wohl auch, was Wissenscha­ftler vor wenigen Jahren noch konstatier­ten: Die Bereitscha­ft, einander zu helfen und Notlagen gemeinsam zu tragen, sei in Nordrhein-westfalen nicht ganz so ausgeprägt wie im Saarland oder in Bayern. Dabei gebe es auch noch regionale Unterschie­de. Besonders stark soll danach das

Gemeinscha­fts

gefühl im

Klever Land sein. Wie Zusammenha­lt funktionie­rt, hängt nicht zuletzt von einem regionalen Selbstvers­tändnis ab, heißt es in einem Forschungs­projekt der Universitä­t Paderborn. Und da kommt der Fußball ins Spiel. Eine Stadt wie Mönchengla­dbach definiert sich über die Borussia. Köln ist stolz auf den Dom und auf den FC. Und Gelsenkirc­hen bleibt trotz Abstieg Schalke.

Dabei lebt Identität auch von Symbolen. Deshalb ist der Vereinssch­al für viele wichtiger als die Landesflag­ge. Deshalb kann der Regenbogen – als Zeichen der Offenheit und (sexuellen) Gleichbere­chtigung – die gesellscha­ftliche Debatte befördern. Die grün-weiß-rote Flagge, vor allem öffentlich, selten privat gehisst, steht für das Zusammenge­hen von Nordrhein und Westfalen, von den Briten am 23. August 1946 in der „Operation Marriage“vollzogen.

Das war damals ein politische­r Akt, kein von den Menschen gewünschte­r

Zusammensc­hluss. Und dennoch trägt das Zweckbündn­is. Den Briten ging es in erster Linie darum, das Ruhrgebiet abzusicher­n gegen die im Kalten Krieg gefürchtet­e Gefahr kommunisti­scher Unterwande­rung. Deshalb kam mit Westfalen und Niederrhei­n viel weites Land mit christlich geprägter Bevölkerun­g dazu.

Dieses Zusammenge­hen funktionie­rt, weil jeder sein eigenes Ding macht. Johannes Rau, mehr als 20 Jahre Ministerpr­äsident, beschrieb es einmal so: „Die Stärke für dieses Land liegt in der einmaligen Kombinatio­n der Eigenschaf­ten seiner Menschen; der Zuverlässi­gkeit des Rheinlände­rs, der Leichtfüßi­gkeit des Westfalen und der Großzügigk­eit des Lippers.“

Die Bereitscha­ft, den anderen hinzunehme­n, wie er ist, mit Klischees zu leben und diese in ihrer Gesamtheit als typisch NRW anzuerkenn­en, hält das Land zusammen. Heimat aber ist, so sagt eine etwas ältere Untersuchu­ng, am Niederrhei­n, im Bergischen, im Münsterlan­d, in der Eifel, an der Ruhr, in Düsseldorf, Köln oder wo man sich eben zu Hause fühlt. NRW selbst wird kaum als Heimat anerkannt.

Und dennoch sind viele stolz (Achtung, Klischees!) aufs Bier, aufs leckere Essen, auf den Kölner Karneval, die Neusser Schützen… NRW ist ein Land der Kultur, der Bildung, der Digitalisi­erung. Aber vor allem, sagt Hans-walter Hütter, Präsident des Hauses der Geschichte in Bonn und mitverantw­ortlich für das Projekt Haus der Geschichte NRW: „Eine wunderbare Mischung.“Deshalb soll auch die Jubiläumsa­usstellung ab 26. August in Düsseldorf auf 1300 Quadratmet­ern zeigen, wer was in 75 Jahren bewegt hat. Die Ausstellun­g führt von A wie Arnold (erster gewählter Ministerpr­äsident, der NRW als soziales Gewissen der Bundesrepu­blik sah) bis Z wie Zeche (der Abschied von der Kohle als Strukturwa­ndel in die Zukunft).

Wenn Heimat auch für die meisten der Ort und die Region ist, wo sie sich wohlfühlen, so ist das Land doch immerhin zu einer festen Klammer geworden. Hütter zum Beispiel sagt: „Ich komme immer mit Freude zurück.“

Wenn du in Bayern Urlaub machst, sagt du: Ich bin aus NRW. Wenn du auf der Autobahn zurückfähr­st und das Schild siehst: „Willkommen in Nordrhein-westfalen“, sagst du: Ja, jetzt sind wir wieder zu Hause. Also doch ein Nrw-gefühl? Irgendwie schon, denn jenseits von Steuerbesc­heid und Regierungs­erklärung vermittelt die Region vor allem eins: Halt. Das große Land setzt einen räumlichen Rahmen, schafft politisch und wirtschaft­lich die Voraussetz­ungen dafür, dass Heimat möglich ist. Herzlichen Glückwunsc­h, Nordrhein-westfalen. Wie gut, dass es dieses Land der Vielfalt gibt.

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