Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Transformation der Gesellschaft ist ein verwundbares Konzept“
HERFRIED MÜNKLER Das Konzept des „Nationbuilding“ist in Afghanistan gescheitert, sagt der Politikwissenschaftler. Ein Grund dafür sei fehlendes Verständnis des Westens.
DÜSSELDORF Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat Bücher geschrieben etwa über Machiavelli, die Imperien der Geschichte und die Deutschen und ihre Mythen. „Marx, Wagner, Nietzsche“(Rowohlt Berlin) hat gerade den Sprung auf die „Spiegel“-bestsellerliste im Bereich Sachbuch geschafft. Ein Gespräch über die Bildung von Nationen und die Fehler in Afghanistan.
Herr Münkler, im Zusammenhang mit dem Scheitern in Afghanistan ist zu hören, das Konzept des Nationbuilding sei gescheitert. Was ist das?
MÜNKLER Eine vornehme Umschreibung für die Transformation einer Gesellschaft. Die Amerikaner haben auch den Begriff des RegimeChange geprägt, da geht es nur darum, die politische Führungsspitze und Strukturen zu verändern. Nationbuilding bedeutet, auch in die gesellschaftlichen Strukturen und Mentalität einer Bevölkerung zu intervenieren. Das ist ein anspruchsvolleres, aufwendigeres und verwundbareres Konzept, das mehr Geld kostet und viel leichter durch Gegenhandeln zu zerschlagen ist.
Warum hat das Konzept in Afghanistan nicht funktioniert? MÜNKLER Es wurde immer gesagt, mit dem Eingreifen der Nato-verbündeten sei es den Frauen in Afghanistan besser gegangen. Das stimmt. Doch es wurde nicht gefragt, ob die Männer in Afghanistan das nicht als Bedrohung ihrer eigenen Rolle verstehen. Wenn man sich mit dem Ehrenkodex der Paschtunen beschäftigt, wird klar, wie viele Männer die Emanzipation von Frauen als Bedrohung ihrer Identität verstehen, und der Westen sagt ihnen auch noch, sie sollten dafür kämpfen und womöglich sterben.
Nun will der Westen am liebsten nirgends mehr Nationbuilding betreiben. Der Einsatz in Mali wird auch hinterfragt.
MÜNKLER Natürlich dürften sich auch Ortskräfte in Mali jetzt fragen, warum sie sich weiter auf ihr gefährliches Geschäft einlassen sollen, wenn die westlichen Interventen so schmählich mit den afghanischen Ortskräften umgegangen sind. Vermutlich werden auch Länder wie Taiwan sich jetzt fragen, ob sie sich auf die USA verlassen können, wenn die Chinesen sie bedrohen sollten. Vielleicht werden sie es sinnvoller finden, den Preis für die Chinesen zu erhöhen, um nicht geschluckt zu werden. Das würde bedeuten, dass sie Atomwaffen bräuchten. Das Unglaubwürdigwerden amerikanischer Sicherheitsversprechen könnte so in letzter Konsequenz zu einer Welle der nuklearen Aufrüstung führen.
Russland und China umarmen die Taliban als neue Partner. Sind diese Mächte realistischer als der Westen?
MÜNKLER Die Russen haben nicht den Antrieb, Werte und Normen zu exportieren. Sie betreiben kühle Geopolitik. Das gilt auch für die Chinesen. Die arbeiten gut mit den Taliban zusammen, indem sie sagen, wenn ihr euch nicht in unser Uiguren-problem einmischt, mischen wir uns nicht bei euch ein. Wir finanzieren ein paar Projekte, dafür zahlt ihr mit Seltenen Erden. Mächte wie China operieren allein über Interessen, nicht über Normen und Werte. Das macht sie als Kooperationspartner attraktiv.
Sollte der Westen also seine moralischen Ansprüche aufgeben, wenn er in der Welt agiert?
MÜNKLER Er wird davon wegkommen müssen, wenn er die Auseinandersetzungen mit Mächten wie China und Russland nicht verlieren will. Denn sonst macht er sich für bestimmte Bündnispartner unattraktiv, er geht ihnen mit seinen Ansprüchen auf die Nerven. Und er muss sehr viel mehr Geld investieren. Das kann seine Kräfte übersteigen. Wenn man genau auf Afghanistan blickt, dann hat der Westen mit seinem Abzug die Regierungstruppen aufgegeben, nur das Tempo des Vormarsches der Taliban hat ihn überrascht. Der Westen wollte eine Anstandsfrist, damit nicht so auffällt, dass er verloren hat. Diese Frist hat er nicht bekommen.