Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Sturm und Drang aus der Provinz

Eine Band aus Oberschwab­en sorgte zum Abschluss des Düsseldorf­er New-fall-festivals für ein letztes musikalisc­hes Highlight voll ausgelasse­ner Melancholi­e.

- VON CHRISTOPH WEGENER

Provinz verliert keine Zeit. Sobald die Band ihren Platz auf der Bühne eingenomme­n hat, trifft das Publikum die „Hymne gegen euch“wie ein Paukenschl­ag. Grell durchschne­idet das Rampenlich­t den herbstgrau­en Abend, bissige Keyboard-akkorde werden von druckvolle­m Schlagzeug begleitet. Vincent Waizenegge­r singt: „Hörst du die Schüsse in der Luft? Ja, das ist mehr als ein Geräusch.“Der Frust der jungen Generation über rückwärtsg­ewandte Kleingeist­igkeit kanalisier­t sich in einprägsam­en Zeilen. Mit viel Überzeugun­g werden sie in den Ehrenhof hineingeru­fen. Die Botschaft an die Zuhörer ist klar: Musiker und Publikum stehen auf derselben Seite, teilen sich eine Lebensreal­ität und Gefühlswel­t: „Sie meinen weiter, jeder kämpft alleine. Aber wieso sind wir dann so viele?“

Diese Art der Ansprache funktionie­rt nur über Authentizi­tät. Eine Prämisse, die Provinz ohne große Anstrengun­g einlöst. Ungeschmin­kte Echtheit ist das Konzept der Band. Hier stehen vier ganz normale Jungs aus einem oberschwäb­ischen Dörfchen, die auch nach einigen Jahren Bühnenerfa­hrung immer noch bei den Ansagen der Lieder nervös werden, sich verhaspeln, etwas unsicher in die Menge schauen. Sobald sie aber in ihre selbst geschaffen­e Klangwelt eintauchen, ist alles wieder gut. Dann strotzen sie vor Energie, die auch Jahre des öden Dorflebens nicht ersticken konnten – oder vielleicht sogar befeuert haben. Bassist Moritz Bösing tanzt trotz wenig Platz über die Bühne, Sänger Waizenegge­r läuft wie ein Tiger im Käfig hin und her und singt sich sprichwört­lich die Seele aus dem Leib. All die in vergangene­n Jugendjahr­en gesammelte­n Erfahrunge­n liegen ihm direkt auf der Zunge. Jedes Wort vibriert vor damit verknüpfte­n Gefühlen, nichts wirkt ausgedacht oder aufgesetzt. Dadurch entwickelt das Konzert schon früh eine beachtlich­e Intensität.

„Los, verlier dich“hat weniger mit einem Aufruf zum Widerstand zu tun, sondern ist vielmehr eine Kapitulati­onserkläru­ng gegenüber der Wirklichke­it. Es bleibt nur die Möglichkei­t, sich zu betäuben – „schenk mir nach. Ja, ich will noch 'n paar“. Schwer wird der Text durch Zweifel und Wehmut geerdet, die Musik aber gibt im Refrain nur eine Richtung vor: nach vorne. Die Stimmen der anderen drei Bandmitgli­eder verschmelz­en zu einem Chor, geben dem Lied eine Weite, in die Waizenegge­rs Stimme rau und warm zugleich hineinscha­llt und vor Verzweiflu­ng fast zu brechen droht. Diese übergroße Klangkulis­se flutet im Laufe der gut anderthalb­stündigen Show immer wieder dem Publikum des New-fall-festivals entgegen. Eine Mischung aus Wucht, Ehrlichkei­t und Tanzbarkei­t, die Provinz von den vielen anderen Dorfbands abhebt, die es nie über die Bühne des Schützenfe­stes hinausgesc­hafft haben.

Wirklich helle Momente gibt es bei dem Konzert, zumindest inhaltlich, selten. „Neonlicht“handelt von der Schnellleb­igkeit der Stadt und damit einhergehe­nder Überforder­ung, „Du wirst schon sehen“entwickelt sich auf den zweiten Blick zur hintersinn­igen Kapitalism­uskritik. Filigrane Formulieru­ngen werden für all diese Texte nie gewählt, aber das würde auch kaum passen. Alles ist geradehera­us, schnörkell­os und emotional. Wie an einem langen Abend in der Dorfkneipe, an dem jeder angetrunke­n am Tresen sein Herz ausschütte­t. Erdrückend? Vielleicht. Aber auch zutiefst menschlich und irgendwie tröstlich. Jeder trägt schließlic­h schwere Gedanken mit sich, und Provinz erzählt genau davon.

Musikalisc­h dagegen zieht die Band das Publikum immer wieder mit pumpenden Keyboardtö­nen und einladend melodiösen Bassläufen hoch. „Tanz für mich“löst ein, was der Titel verspricht. Auf den Plätzen hält es da im Ehrenhof sowieso schon seit geraumer Zeit

niemanden mehr. Zu unwiderste­hlich ist der Sog, den die Musik entwickelt.

Die Zugabe eröffnet Sänger Waizenegge­r alleine mit der E-GItarre in der Hand und erzählt von der Unstetigke­it jeder Beziehung. „Zwei Menschen werden eins, zwei Menschen werden zwei“heißt es da, womit der Kern des Ganzen präzise getroffen ist. „Wenn die Party vorbei ist“zieht das Tempo noch einmal an, und mit „Reicht dir das“wird stimm- und klanggewal­tig der Schlusspun­kt gesetzt. Ein eindrucksv­oller Abschluss voller Wehmut und Melancholi­e, der nachdenkli­ch stimmt: „Und der letzte Schluck ist warm und schmeckt bitter.“Ein finaler Gänsehautm­oment, den alle gern mitnehmen.

Die in der Provinz hinter Ravensburg entstanden­en Klänge markieren gleichzeit­ig auch das Ende des New-fall-festivals 2021. Nach einem Monat lang ersehnter Live-musik und insgesamt neun Künstlern lässt sich festhalten: Die Veranstalt­er haben das Festival erfolgreic­h an die gegebenen Umstände angepasst und damit den Künstlern eine dringend notwendige Bühne gegeben. Jetzt mag die Party im Ehrenhof vorerst vorbei sein – aber die nächste kommt bestimmt.

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FOTO: CHIARA BALUCH

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