Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die großen Niederlagen
SERIE Wir blicken zurück auf die Ära Merkel. Die Kanzlerin wollte einst als Sozialreformerin starten. Aber der Reformeifer erlahmte. Auch in der Energiepolitik enttäuschte sie. Bei der Digitalisierung verirrte sie sich im Neuland.
Mut. Das war das zentrale Wort von Angela Merkel auf dem Cdu-parteitag 2003 in Leipzig: „In einer veränderten Welt kommen wir ohne einen mutigen Schritt nicht aus.“
Vor allem in der Gesundheitspolitik hatte die Cdu-chefin viel vor – mit der Umrüstung der gesetzlichen Krankenversicherung Beiträgen auf ein Prämienmodell. Ökonomisch richtig, doch taktisch verheerend.
Die SPD diskreditierte das Ganze erfolgreich als „Kopfpauschale“und verlor bei der Wahl 2005 nur knapp. Fast wäre Merkel nicht Kanzlerin geworden. Daraus zog sie den Schluss:
Die Deutschen wollen keine großen Reformen, erst recht nicht im Sozialen. Also hat Merkel sie damit 16 Jahre lang auch kaum behelligt.
In entsprechend schlechter Verfassung ist das Land nun, was die Zukunftsfähigkeit der Sozialsysteme angeht. Die Sozialabgaben liegen bereits bei 40 Prozent, was für Arbeitnehmer und Betriebe eine große Belastung ist. Und das dicke Ende kommt noch: wenn die Babyboomer in Rente gehen und nicht mal mehr zwei Beitragszahler auf einen Rentner kommen. Der demografische Wandel wird zum Sprengsatz für Renten- und Gesundheitssystem.
„Wenn die Gesetze der Mathematik nichts anderes mehr zulassen, dann muss die Politik die richtigen Weichen stellen“, hatte Merkel in Leipzig gesagt. Dann verließ sie der Mut. Zwar hat ihre große Koalition 2007 die notwendige Rente mit 67 beschlossen. Doch nun haben ihr selbst Regierungsberater bescheinigt, dass dies nicht reicht: Der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministers warnt vor einem Finanzierungsschock der Rentenversicherung und fordert eine längere Lebensarbeitszeit, etwa die Rente mit 68. Auch das Programm von Armin Laschet drückt sich um die Frage, wie die Rente langfristig finanziert wird.
„Wir müssen Neuland betreten“, hatte Merkel in Leipzig gesagt. Das geschah in der Sozialversicherung nicht. Den Rückgang der Arbeitslosigkeit in ihrer Amtszeit hat sie vor allem Gerhard Schröders „Agenda 2010“zu verdanken – der Reform, die die SPD fast zerlegte.
Noch ein Neuland macht Probleme: „Das Internet ist für uns alle Neuland“, hatte Merkel 2013 gesagt und wollte auf das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit hinaus. Doch der Satz sagt bis heute viel über den Deutschlands Stand bei der Digitalisierung. Das Internet hat junge Us-firmen wie Amazon zu globalen Riesen gemacht. Mit SAP ist heute nur noch ein deutscher unter den 100 wertvollsten Konzernen der Welt. Nun gründet gute Politik zwar nicht, schafft aber gute Rahmenbedingungen. Daran hapert es bis heute. Die Wirtschaft klagt über Investitionsmangel in klassische und digitale Infrastruktur, Gründer verzweifeln an Bürokratie. Die Pandemie legt schonungslos die Rückstände offen: Faxende Gesundheitsämter und Schulen ohne W-lan wurden zum
Symbol dafür, welch geringen Stellenwert die Digitalisierung in den Merkel-jahren hatte. Daran ändern auch Cebit-besuche der Kanzlerin nichts.
Erst recht verprellte sie die Wirtschaft mit ihrer Energiepolitik. Am 15. März 2011 begann für die Kernkraft die Eiszeit. Vier Tage zuvor hatte ein Tsunami Japan erreicht und im Kernkraftwerk Fukushima zu einem Kühlsystems-ausfall geführt. Die zweite Kernschmelze nach Tschernobyl. Merkel beschloss mit den Ministerpräsidenten ein Moratorium der Laufzeitverlängerung und die Abschaltung von sieben alten Meilern. Ausgerechnet sie, die einst die Kernenergie „verantwortbar und ökologisch sauber“genannt hatte, sagte: „Wenn schon in einem Land wie Japan mit sehr hohen Sicherheitsanforderungen nukleare Folgen eines Erdbebens und einer Flutwelle nicht verhindert werden können, kann auch ein Land wie Deutschland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.“Fukushima sei ein Einschnitt für die ganze Welt.
2022 sollen nun die letzten sechs Meiler vom Netz. Die „quijotische Energiepolitik Merkels“, so das Magazin „Economist“, gilt als eine ihrer größten wirtschaftspolitischen Niederlagen. Hinzu kommen die gewaltigen Subventionen für Wind- und Sonnenkraft, die den Strom für Verbraucher und Firmen so teuer machen. Zahlte eine vierköpfige Familie zum Amtsantritt rund 52 Euro monatlich für Strom, sind es nun über 93 Euro. Statt „sicher, kostengünstig, nachhaltig“(Eigenwerbung) ist die Stromversorgung überteuert und unsicherer geworden.
Nicht mal die Ökobilanz ist makellos. Zwar ging der Co2-ausstoß der Energiewirtschaft in Merkels Kanzlerschaft um 15 Prozent zurück. Doch wenn der Wind nicht weht, müssen alte Kohleblöcke ran. Die „Fridays for Future“-bewegung heizte der Bundesregierung ein, 2038 kommt nun der Kohleausstieg, abgefedert mit vielen Steuermilliarden. Das Verfassungsgericht verdonnerte die Regierung zum Nachsitzen. Merkels Energiepolitik ist unlogisch und unwirtschaftlich. Von Leipzig auch hier keine Spur.
Bereits erschienene Folgen
9. Augustmerkel und NRW
16. August Spuren der Macht
Die nächsten Folgen
30. August Die Fußballkanzlerin
4. September Merkel und die Krisen
13. September Die großen Siege
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