Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Der böse Spuk der Inzidenzen
ANALYSE Die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland steigt sprunghaft. Das scheint die Politik kaum zu kümmern. Doch trotz der hohen Impfquote und der geringen Zahl der schweren Fälle könnte die Dynamik gefährlich werden.
Nordrhein-westfalen ist Vorreiter – und könnte gut auf diese zweifelhafte Ehre verzichten. Im bevölkerungsreichsten Bundesland ist die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner zum ersten Mal seit Monaten wieder dreistellig. Am Montag gab das Robert-koch-institut (RKI) ausgerechnet zum 75. Geburtstag des Landes den Inzidenzwert mit 103,3 an. Noch vor einer Woche lag die Zahl bei wenig mehr als der Hälfte. Von den 15 Städten und Landkreisen mit der höchsten Zahl an Neufällen liegen allein 14 in NRW. Nach dem alten Infektionsschutzgesetz müsste eigentlich die Bundesnotbremse greifen. Doch das Corona-kabinett des Bundes beschloss am Montag lieber eine Abkehr vom System der Inzidenzen. Stattdessen soll die Rate der Krankenhauseinweisungen maßgeblich werden. „Die 50er-inzidenz im Gesetz, die hat ausgedient“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Zdf-„morgenmagazin“und bezog sich auf den Wert, ab dem bislang regionale Corona-maßnahmen notwendig werden. Die Fachwelt reagiert positiv. „Mit steigender Impfquote in Deutschland und der zunehmenden Entkopplung von Inzidenz und Krankheitslast müssen Bund und Länder ihre Corona-politik neu ausrichten. Der Inzidenzwert allein ist zur Steuerung der Corona-schutzmaßnahmen nicht aussagekräftig genug“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, unserer Redaktion.
Warum haben sich die Inzidenzen so sprunghaft entwickelt? Fast alle Experten machen die hochansteckende Delta-variante, die aus Indien stammt, für den raschen Anstieg verantwortlich. Sie ist um 40 Prozent infektiöser als die in Großbritannien entstandene Alpha-mutation des Coronavirus. Und die war schon zwischen 40 und 90 Prozent ansteckender als der Urtyp aus der chinesischen Millionenstadt Wuhan. Ohne diese Varianten wäre das Virus derzeit kein Problem mehr, aber die schnelle Mutation des Erregers gehört eben zu dessen typischen Eigenarten. Idealer Übertragungsort waren vermutlich die großen Ansammlungen junger Leute in den Großstädten. Entsprechend sind die Inzidenzen bei den 15- bis 34-Jährigen derzeit am höchsten. Die Zahl lag bei der jüngsten Rki-erhebung Ende vergangener Woche bei über 85, bei den über 80-Jährigen steckten sich innerhalb einer Woche pro 100.000 Personen nur zehn an.
Auch die erhöhte Mobilität in den Sommermonaten und vor allem die Reisetätigkeit spielen eine große Rolle beim jüngsten Sprung der Infektionen. Nach Rki-angaben ist jede vierte Infektion, die lokal geortet werden kann, im Ausland erfolgt. „Da diese Personen nach ihrer Rückkehr auch noch weitere Menschen in Deutschland angesteckt haben können, spricht das für einen deutlichen Beitrag des Reisegeschehens zur Inzidenzentwicklung“, sagt Jan Fuhrmann, der als Mathematiker und Statistiker an der Universität Heidelberg die Verbreitung der Pandemie erforscht. Allerdings will der Corona-forscher nicht ausschließen, dass erst die verstärkte Kontrolle der Reisenden das ergeben hat. Das könnte den Effekt überschätzen.
Wie werden sich die Zahlen entwickeln? Es gibt mehrere Szenarien in Abhängigkeit von der Impfquote und der Vorsicht der Bevölkerung. Derzeit sind gerade einmal 63 Prozent der 18- bis 59-Jährigen und nur 18 Prozent der Jugendlichen (zwölf bis 17 Jahre) vollständig geimpft. Selbst wenn die Gesamtquote in dieser Altersgruppe auf 75 Prozent steigt, würde die Zahl der Covid-patienten auf den Intensivstationen nach einer Rki-studie von derzeit 712 auf bis zu 2500 zum Jahresende hochschnellen. Sollten die Menschen jedoch ihre Kontakte – anders als vom RKI angenommen – kaum verringern, könnten es nach einer Simulation mit dem Covid-19-rechner der Universität Saarbrücken Ende September sogar 3600 Intensivpatienten sein. Die Inzidenz in Deutschland würde danach zwischen 150 und 320 liegen. Bis zur bisherigen Höchstzahl von 5762 Intensivpatienten, die Anfang Januar registriert wurde, wäre es nicht mehr allzu weit.
Taugen die Inzidenzen noch als zentraler Indikator? Das RKI hält noch immer an den Inzidenzen als Frühwarnsystem fest. „Die Sieben-tage-inzidenz gibt die Geschwindigkeit an, mit der sich die Infektionen verbreiten“, begründet das Institut sein Vorgehen. Dem schließt sich auch der Heidelberger Corona-forscher Fuhrmann an. Die Inzidenz könne einen wichtigen Hinweis auf Krankenhauseinweisungen und die Belegung der Intensivstationen liefern. Allerdings, so Fuhrmann, sei mit ähnlichen Belastungen des Gesundheitssystems wie im Winter derzeit „erst bei deutlich höherer Inzidenz zu rechnen“.
Doch hier setzen die Probleme ein. Denn eine genaue Zahl wollen die meisten Forscher nicht nennen. Die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung drängen die Fachleute, einen neuen Gesamtindikator für mögliche Corona-maßnahmen zu konstruieren. Die Arbeitsgruppe Infektionsschutz der Landesgesundheitsämter hat in Zusammenarbeit mit dem RKI dazu ein Papier erstellt. Neben der Inzidenz der Neufälle sollen dabei auch die Krankenhauseinweisungen (Hospitalisierungen) und die Belegung der Intensivbetten mit Covid-patienten Berücksichtigung finden. Alle drei Faktoren sollen dabei zu einer einheitlichen Kennzahl verschmolzen werden. Noch streiten sich die Fachleute über die genaue Gewichtung. Unklar ist auch, ob das Alter und der Impfstatus der Infizierten sowie der Anteil der positiven Corona-tests in den Indikator einfließen sollen. Eines ist aber sicher: Als alleiniger Indikator haben die Inzidenzen ausgedient.