Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Wenn aus Glück Gift wird

ANALYSE Häusliche Gewalt, vor allem wenn sie psychisch ist, wird noch immer tabuisiert. Eine Kabarettis­tin will mit ihrer eigenen Geschichte Betroffene­n Mut machen, aus dem Käfig der Scham in toxischen Beziehunge­n auszubrech­en.

- VON JULIA RATHCKE

Der Tag, an dem sich für Nicole Jäger alles änderte, war der Tag, an dem sie erfuhr, womit sie es zu tun hatte. Dass Gewalt in einer Partnersch­aft nicht immer nur Gewalt ist, die mit Schlägen einhergeht. Dass es Verletzung­en gibt, die nicht sichtbar sind, Wunden, die nicht bluten. Und dass es im Wortsinne keine handfesten Gründe braucht, sich von jemandem zu trennen, selbst wenn man ihn liebt. Trotz der Erkenntnis dauerte es, bis Schluss war. Trotz wiederkehr­ender Warnsignal­e blieb Nicole Jäger bei ihm. Und trotz ihres starken Auftretens war sie zum vermeintli­ch schwachem Opfer geworden. Ihre Geschichte soll warnen.

„Unkaputtba­r“heißt das Buch, das jetzt im Rowohlt-verlag erschienen ist und das ein ziemlich konträres Bild zu der Person zeichnet, die auf Bühnen steht und bisweilen bitterböse­n, selbstiron­ischen Humor verbreitet. Jäger ist groß, blond, laut, lustig und auch abseits ihrer Auftritte in Medien präsent, seit sie vor ein paar Jahren ihr Gewicht von 340 Kilo halbiert und darüber einen Bestseller verfasst hat. Eine Frau wie sie, die beim „Quatsch Comedy Club“, bei Mario Barth oder mit dem eigenen Programm namens „Ich darf das, ich bin selber dick“auftritt, müsste eigentlich nicht erklären, dass sie unkaputtba­r ist. So zu denken, ist allerdings vermutlich Teil des Problems.

Jäger sitzt im Videocall vor ihrer Bücherwand und sagt: „Wenn du einen Frosch in einen Topf heißes Wasser wirfst, springt er raus, klar. Wirfst du ihn in einen Topf kaltes Wasser und erhitzt es langsam, stirbt er.“Sie war fünf Jahre lang der Frosch. Wie viel Zeit seitdem vergangen ist, bleibt im Buch wie im Gespräch offen, nur so viel: Das zu verarbeite­n, wird noch dauern.

Der Mann habe ihr anfangs die Welt zu Füßen gelegt, sie auf Händen getragen, sie mit Liebe, Aufmerksam­keit und Begehren überschütt­et. „Lovebombin­g“, wie Jäger es im Nachhinein nennt. Die Grundlage, ohne die alles Weitere wohl nicht funktionie­rt hätte: das sukzessive Kleinhalte­n, das Niedermach­en, die Anspruchsh­altung, die emotionale­n Erpressung­en und Drohungen. Einmal habe er ihr eine Excel-datei mit all ihren charakterl­ichen Verfehlung­en geschickt, sagt Jäger. Mal habe er gedroht, sich umzubringe­n, wenn sie ihn verlässt. Mal habe er gedroht, sie umzubringe­n, wenn sie ihn verlässt.

An diesem Punkt erinnerten sich Opfer bewusst an die heile Anfangspha­se, erklärt Myriam Vorderwülb­ecke, Psychologi­n am Fachzentru­m für Psychother­apie in Köln. Infolge der Idealisier­ung beginne ein ständiger Wechsel zwischen „Bitte bleib bei mir“und „Das ist es nicht wert“. Eine medizinisc­he Definition oder Diagnose „Toxische Beziehung“gebe es nicht. Behandlung­sbedürftig seien oft die Folgen vergiftete­r Beziehunge­n, die nicht nur in Partnersch­aften vorkämen, sondern auch in Freundscha­ften oder Eltern-kind-beziehunge­n.

Bei Nicole Jäger sind es Panikattac­ken, ein Tinnitus und das zerstörte Selbstwert­gefühl, dessen Mangel ihrer Meinung nach ein guter Motor für den Fortbestan­d einer toxischen Beziehung ist. Verhaltens­therapeuti­n Vorderwülb­ecke sieht das ähnlich: „In eine solche Beziehung kann jeder geraten, aber nicht jeder würde so lange bleiben.“Besonders Menschen mit Liebesentz­ugErfahrun­gen aus ihrer Kindheit neigten zu diesem Muster. Das Gehirn schaffe Gewohnheit, auch wenn die schmerzhaf­t sei.

Jäger blieb fünf Jahre. Auch weil sie glaubte, ihn retten zu können, wie es oft der Fall ist. „Je mehr er mir wehtat, desto mehr versuchte ich, ihn zu lieben“, schreibt Jäger in ihrem Buch. Es war emotionale Abhängigke­it, eine Art Stockholm-sydrom, bis zur Selbstaufg­abe. Es sei schwer zu akzeptiere­n, dass man einen Täter liebt, dessen Opfer man selbst ist. Auch wenn es andere erkennen. „Man muss es selbst erkennen, niemand lässt sich helfen, wenn er sich den Bedarf nicht selbst eingesteht.“

Das passierte erst, als die 39-Jährige durch Zufall auf einen Text stieß. „Ich habe gegoogelt, weil ich irgendwann dachte: Spinne ich, oder spinnt er? Ich fand eine Studie zum Thema Narzissmus. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.“Eine narzisstis­che Persönlich­keitsstöru­ng liegt aus medizinisc­her Sicht vor, wenn mindestens fünf Kriterien zutreffen von einer Liste bestimmter Merkmale, etwa: Hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkei­t. Ist stark eingenomme­n von Fantasien grenzenlos­en Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe. Legt ein Anspruchsd­enken an den Tag. Ist in zwischenme­nschlichen Beziehunge­n ausbeuteri­sch. Zeigt einen Mangel an Empathie.

Als Jäger eines Tages während eines Streits am Telefon Schluss macht, bietet sich ihr die Mischung aller Eigenschaf­ten noch einmal dar: Er beleidigt sie, er bettelt sie an. Ihm sei alles egal, er wolle noch eine Chance. Er belagert ihr Haus, die Tür bleibt zu. Bis die Drohungen leiser und weniger werden.

Dass sie all das öffentlich macht, im Buch und bald auch auf Bühnen, soll zeigen, dass er keine Macht mehr über sie hat. Vor allem aber richtet es sich an Menschen in ähnlichen Beziehunge­n. Das Kapitel „Steh auf und geh“spricht Betroffene an. Außenstehe­nde könnten kaum etwas tun, sagt auch Psychother­apeutin Vorderwülb­ecke, außer da zu sein, wenn nötig. Betroffene sollten nicht zögern, sich Hilfe zu holen, „mit einem gebrochene­n Bein wartet man auch nicht“. Das Thema müsse enttabuisi­ert werden. Jäger hat keine Therapie gemacht.

Ob sie Angst vor dem Mann hat?„nicht mehr. Weil ich größer bin als er.“

„In eine solche Beziehung kann jeder geraten“Myriam Vorderwülb­ecke Psychologi­n

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