Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
AFGHANISTAN
Der Brexit zeigt Wirkung: Viele Firmen im Land stellen sich auf die neue Lage ein. Die kleinen unter ihnen haben oft das Nachsehen.
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LONDON/DÜSSELDORF Volle Pubs und Restaurants, ausverkaufte Konzerte, ein fast normales Leben: Wer dieser Tage seinen Blick auf Großbritannien richtet, kann schnell neidisch werden. Nachdem Premierminister Boris Johnson vor etwa einem Monat mit den Worten „Wann, wenn nicht jetzt?“den Freedom Day verkündet hatte, an dem so gut wie alle Pandemiebeschränkungen fielen, gelten im Vereinigten Königreich fast keine Corona-restriktionen mehr. Das ließ zuletzt auch die dortigen Unternehmen aufatmen: Um 4,8 Prozent ist die britische Wirtschaft im zweiten Quartal dieses Jahres gewachsen. Zum Vergleich: In Deutschland war es nach Zahlen von Dienstag gerade einmal ein Plus von 1,6 Prozent. Laut dem britischen Amt für nationale Statistiken ist vor allem die Binnenwirtschaft wieder angelaufen. Deutschland erlebt dagegen seit Jahresbeginn eher ein Wiederaufleben des Handels mit anderen Ländern. Großbritannien aber hat mit dem Aufschwung hierzulande wenig zu tun: Während sowohl die deutschen Exporte als auch die Importe seit Dezember vergangenen Jahres insgesamt stark gewachsen sind, haben die Ausfuhren auf die Insel nur leicht zugenommen. Die Importe von dort sind sogar gesunken.
Doch gibt es auch Erholungstendenzen. Generell habe Großbritannien durch den Brexit eher an Bedeutung verloren, sagt Robert Butschen, Referent für Internationale Märkte der Industrie- und Handelskammer (IHK) Düsseldorf: „Früher konnte man das Vereinigte Königreich immer gut mit Italien vergleichen, was die Bedeutung für den deutschen Außenhandel angeht. Die Schere ist auseinandergeklafft. Heute ist das eher eine Liga mit der Schweiz oder Belgien.“
Besonders NRW leidet dabei unter den Brexit-folgen. Nach einer Berechnung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln entfielen vor dem Brexit gut 20 Prozent des deutschen Handels mit Großbritannien auf NRW. Die Exporte von hier nach Großbritannien sind laut Zahlen der Landesdatenbank NRW unmittelbar nach dem Ende der Übergangsphase um 17,8 Prozent gesunken. Die Importe sind sogar noch stärker betroffen.
Zahlen, die man mit Bedacht interpretieren muss, mahnt IHK-EXperte Butschen: „Es gab zwei Jahre in Folge eine Torschlusspanik. Sowohl Ende 2020 als auch schon Ende 2019 hat man versucht, möglichst viele Waren noch schnell auf die andere Seite des Ärmelkanals zu bringen.“Das habe zunächst zu einem regelrechten Boom im Außenhandel mit Großbritannien geführt. Der Einbruch kam danach fast automatisch. Man müsse daher die aktuelle Lage eher mit 2015 oder 2016 vergleichen, so Butschen: „Seit dem Referendum ist unglaublich viel an gegenseitigem Vertrauen verloren gegangen. Auch in den Jahren vor dem endgültigen Brexit hatten wir schon starke Einbrüche. Die haben sich 2019 und 2020 noch verstetigt.“
Der Brexit sei vor allem ein Problem für kleinere Betriebe, erklärt Jens Heckroth von der IHK Ostwestfalen: „Alle Unternehmen klagen über mehr Bürokratie. Große und mittlere Betriebe können den Aufwand und die Kosten aber stemmen. Kleinere müssen sich aus dem Großbritannien-geschäft komplett zurückziehen.“Das gelte besonders für Logistikfirmen. „Kleinere Spediteure haben mit Zollbarrieren keine Erfahrung. Die fahren überall hin, nur nicht mehr nach Großbritannien“, so Heckroth. Sein Düsseldorfer Kollege Robert Butschen bestätigt, dass vor allem große Konzerne an ihren Großbritannien-aktivitäten festhalten, wie etwa die Automobilindustrie. Diese mache deutschlandweit einen großen Teil des Handels mit Großbritannien aus. „Das hört natürlich nicht auf“, so der Experte. In NRW allerdings hat die Automobilindustrie – abgesehen von zahlreichen Zulieferern und Ford in Köln – nicht den Stellenwert wie in den klassischen Autoländern Baden-württemberg oder Niedersachsen. Hierzulande seien es daher die kleinen Akteure, die sich zweimal überlegten, ob sie die zusätzliche Bürokratie in Kauf nähmen.
Jens Heckroth blickt daher einigermaßen optimistisch in die Zukunft. Die meisten Firmen hätten sich an die neue Situation angepasst, sagt er. Auch Außenwirtschaftsexperte Butschen glaubt, dass die größten Verwerfungen bereits hinter uns liegen. Er warnt aber, dass manchen Firmen noch ein böses Erwachen bevorstehen könnte: „Corona hat viele Brexit-probleme verschleppt. Durch die starken Beschränkungen waren zum Beispiel Reisen fast unmöglich.“Vielen Firmen sei „noch gar nicht bewusst, dass sie künftig ziemlich aufwendige Visa-anträge stellen müssen, um überhaupt Arbeitnehmer nach Großbritannien entsenden zu können. Auf viele Unternehmen kommt das dicke Ende erst noch zu.“