Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Was man von Island über Corona lernen kann
In dem Inselstaat schnellen die Infektionszahlen in schwindelerregende Höhen. Das Land hatte einige Regeln gelockert.
REYKJAVIK Die Lage in Island war entspannt: Monatelang gab es nur wenige Neuinfektionen. Ihre Zahl lag im niedrigen zweistelligen Bereich. Zwischen Februar und März lag die Inzidenz sogar kurzzeitig bei null. Doch seit Mitte Juni steigen die Infektionszahlen – gleichzeitig mit der Aufhebung der landesweiten Beschränkungen wie dem Masketragen und Abstandhalten.
Schnell zeigte dasdashboard Anfang August einen 14-Tages-inzidenzwert von mehr als 400 Fällen pro 100.000 Einwohner. Schutzmaßnahmen wie das Tragen der Maske und Abstandsregeln bei Konzerten, im Theater und bei Sportveranstaltungen sind wieder Pflicht. Dennoch zeigt die Inzidenzkurve steil nach oben – und das, obwohl 93 Prozent der über 16-Jährigen geimpft sind. Auf Twitter wird von der größten jemals dagewesenen Covid-19-welle in Island berichtet.
Die Zahl der Neuinfektionen überschreitet das Rekordhoch von Oktober. Zu diesem Zeitpunkt lag die 14-Tage-inzidenz bei rund 292 Fällen pro 100.000 Einwohner. Im Verhältnis zu der geringen Einwohnerzahl der Insel sind dreistellige tägliche Infektionszahlen, wie sie in den vergangenen Tagen immer wieder erfasst wurden, bedrohlich. In Island leben insgesamt nämlich gerade einmal 360.000 Menschen. Das sind etwa so viele wie in Bochum.
Wie in weiten Teilen der Welt ist die besonders ansteckende Delta-variante für die meisten Infektionen verantwortlich. „Es ist ein typisches Phänomen der sogenannten besorgniserregenden Varianten, dass sie zu plötzlich in die Höhe schnellenden Entwicklungen führen“, sagt Friedemann Weber, Leiter des Instituts für Virologie der Universität Gießen. Solche Trends habe man auch bereits in Großbritannien und Israel beobachten können.
In Island verursacht vor allem die Gruppe der 18- bis 20-Jährigen den Anstieg der Infektionszahlen, wie sich in der sehr exakten isländischen Erfassung zeigt. Zwar seien 80 Prozent der Menschen in dieser Altersgruppe geimpft, doch könne es trotz hoher Impfraten zur Häufung von Ausbrüchen vor allem unter Ungeimpften kommen, sagt Weber.
„Wir können uns glücklich schätzen, denn obwohl die Fälle zunehmen, sehen wir immer noch keine ernsthaften Krankheiten“, erklärte Premierministerin Katrin Jakobsdottir nach Angaben des Rundfunksenders RÚV. Auch die Zahl der Toten – es sind 30 seit Beginn der Pandemie – ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr niedrig.
„Impfung schützt“– das sei die wichtige Botschaft, die sich aus der auf den ersten Blick erschreckenden Entwicklung in Island ablesen lasse, sagt Weber. Zwar gebe es auch bei Geimpften sogenannte Impfdurchbrüche, bei denen Menschen trotz vollständiger Impfung erkrankten. Doch zeigten die Betroffenen meist kaum Symptome, und die Zahl schwerer Verläufe sei minimal.
Eine kleine Erhebung aus Österreich mag das bestätigen: Dort zeigte sich bei einer telefonischen Abfrage aller dortigen Intensivstationen durch das österreichische Magazin „Profil“, dass 84 Prozent der Corona-intensivpatienten nicht vollständig geimpft waren.
Mögliche Rückschlüsse lassen sich durch die Entwicklung in Island jedoch mit Blick auf das Thema Auffrischungsimpfung ziehen. „Fast 60 Prozent der Isländer sind mit einem mrna-impfstoff geimpft. Alle Übrigen mit Vektor-impfstoffen und dem Vakzin von Johnson& Johnson“, sagt Weber. Unter den geimpften Infizierten seien zu mehr als 50 Prozent Personen betroffen, die den Impfstoff von Johnson& Johnson erhalten hatten. Auch dieser schützt zu mindestens 80 Prozent vor schweren Verläufen. Dennoch hält Weber es für sinnvoll, anlässlich der aktuellen Entwicklungen weitere klinische Tests voranzutreiben, um schnell Erkenntnisse dazu zu bekommen, wie schnell nachgeimpft werden müsse. Grundsätzlich empfiehlt der Experte auf Grundlage der Beobachtungen aus Island, Großbritannien und Israel, zusätzlich zur Covid-19-impfung an Schnelltests und dem Tragen von Masken festzuhalten. Diese Kombination habe sich als die effizienteste erwiesen.