Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

WISSENSDRA­NG Die Werte der anderen aushalten

In ethischen Fragen neigen viele zu Intoleranz. Sinnvolle Verständig­ung ist nicht leicht.

- MARIA-SIBYLLA LOTTER

Wenn es um kontrovers­e moralische Themen wie Abtreibung, Ehe zwischen Gleichgesc­hlechtlich­en, Wiedergutm­achung historisch­en Unrechts geht, ist eine vernünftig­e Verständig­ung oft schwierig. Will man zu einer gemeinsame­n moralische­n Einsicht kommen, sollte man sich nach verbreitet­er Vorstellun­g auf objektive Maßstäbe berufen. Streiterei­en über Tatsachen – wiegen die Äpfel wirklich ein Kilogramm? – kann man ja auch mit einer Waage entscheide­n.

Schon Sokrates hat jedoch festgestel­lt, dass uns eine solche geeichte Waage zur zweifelsfr­eien Entscheidu­ng moralische­r Divergenze­n fehlt. Obgleich wir moralische Werte wie Autonomie und Gerechtigk­eit teilen, scheint das Gewicht dieser Werte sich von Person zu Person zu unterschei­den. Das führt oft zur Empörung über die Realitätsv­erweigerun­g Andersdenk­ender. Sie sind offenkundi­g Fanatiker, Egoisten oder Idioten.

Nach neueren psychologi­schen Untersuchu­ngen ist aber schon die Idee falsch, dass man sich zur Verständig­ung auf neutrale objektive Fakten berufen sollte. Wer auf eigene leidvolle Erfahrunge­n Bezug nimmt, kann eher mit dem Respekt und Verständni­s Andersdenk­ender rechnen. Nicht durch Erregung von Mitgefühl; das blockiert eher das Verständni­s. Wenn die Gesprächsp­artnerin von einer einschneid­enden Erfahrung erzählt, kann das jedoch helfen, die innere Logik ihrer Haltung zu verstehen. Man erkennt, dass sie gute Gründe hat, die Dinge anders zu sehen und Wertfragen anders zu gewichten.

Die Macht von Geschichte­n, unsere Fantasie zu fesseln und Respekt für Personen zu wecken, deren Ansichten wir nicht teilen, ist jedoch nicht unproblema­tisch. Persönlich­e Narrative können subjektiv verzerrt sein oder propagandi­stisch zur Manipulati­on eingesetzt werden. Sie sagen zudem nichts darüber aus, wie weit man die Erfahrunge­n verallgeme­inern kann. Das spricht dafür, sie mit unpersönli­chen Tatsachen zu ergänzen. Der Psychologi­e zufolge bezahlen wir diese Objektivit­ät jedoch mit unserer persönlich­en Überzeugun­gskraft.

Unsere Autorin ist Philosophi­e-professori­n an der Ruhr-universitä­t Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektions­biologin Gabriele Pradel ab.

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