Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
WISSENSDRANG Die Werte der anderen aushalten
In ethischen Fragen neigen viele zu Intoleranz. Sinnvolle Verständigung ist nicht leicht.
Wenn es um kontroverse moralische Themen wie Abtreibung, Ehe zwischen Gleichgeschlechtlichen, Wiedergutmachung historischen Unrechts geht, ist eine vernünftige Verständigung oft schwierig. Will man zu einer gemeinsamen moralischen Einsicht kommen, sollte man sich nach verbreiteter Vorstellung auf objektive Maßstäbe berufen. Streitereien über Tatsachen – wiegen die Äpfel wirklich ein Kilogramm? – kann man ja auch mit einer Waage entscheiden.
Schon Sokrates hat jedoch festgestellt, dass uns eine solche geeichte Waage zur zweifelsfreien Entscheidung moralischer Divergenzen fehlt. Obgleich wir moralische Werte wie Autonomie und Gerechtigkeit teilen, scheint das Gewicht dieser Werte sich von Person zu Person zu unterscheiden. Das führt oft zur Empörung über die Realitätsverweigerung Andersdenkender. Sie sind offenkundig Fanatiker, Egoisten oder Idioten.
Nach neueren psychologischen Untersuchungen ist aber schon die Idee falsch, dass man sich zur Verständigung auf neutrale objektive Fakten berufen sollte. Wer auf eigene leidvolle Erfahrungen Bezug nimmt, kann eher mit dem Respekt und Verständnis Andersdenkender rechnen. Nicht durch Erregung von Mitgefühl; das blockiert eher das Verständnis. Wenn die Gesprächspartnerin von einer einschneidenden Erfahrung erzählt, kann das jedoch helfen, die innere Logik ihrer Haltung zu verstehen. Man erkennt, dass sie gute Gründe hat, die Dinge anders zu sehen und Wertfragen anders zu gewichten.
Die Macht von Geschichten, unsere Fantasie zu fesseln und Respekt für Personen zu wecken, deren Ansichten wir nicht teilen, ist jedoch nicht unproblematisch. Persönliche Narrative können subjektiv verzerrt sein oder propagandistisch zur Manipulation eingesetzt werden. Sie sagen zudem nichts darüber aus, wie weit man die Erfahrungen verallgemeinern kann. Das spricht dafür, sie mit unpersönlichen Tatsachen zu ergänzen. Der Psychologie zufolge bezahlen wir diese Objektivität jedoch mit unserer persönlichen Überzeugungskraft.
Unsere Autorin ist Philosophie-professorin an der Ruhr-universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.