Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Was kommt nach Pflaster und Mull?
„Die Zeit heilt alle Wunden“– für rund anderthalb Millionen Menschen in Deutschland klingt dieser Satz des Philosophen Voltaire wie Hohn. Denn sie leiden unter chronischen, schlecht oder gar nicht heilenden Wunden. Doch die aktuelle Forschung macht Hoffnung.
Egal, ob Wale, Muscheln, Schiffswände oder Steine: wenn sich eine Seepocke dort erst mal festgesetzt hat, kriegt man sie nicht mehr weg. Die kleinen Krebstiere gelten als große VerleimKünstler der Natur – und ihre Technik lässt sich offenbar, wie jetzt ein Forscherteam vom Massachusetts Institute of Technology herausgefunden hat, auch zum Wundverschluss nutzen.
Denn die Seepocken leimen in zwei Stufen: Erst wird ein Öl gebildet, um die Unterlage wasserfrei zu bekommen; und dann kommt ein Klebe-protein, das ihre Körperunterseite mit der Unterlage verbindet. Die Us-forscher simulierten diesen ausgeklügelten Mechanismus, indem sie klebende Mikropartikel mit einem wasserabweisenden Silikonöl zu einer Paste vermischten. Als sie diese nun auf einer offenen Wunde verteilten, spülte das Öl zunächst das Blut mit all seinen möglicherweise störenden Bakterien und Zelltrümmern fort, sodass sich daraufhin die Mikropartikel ungestört vernetzen und die Wunde versiegeln konnten. „An Ratten konnten wir auf diese Weise auch stark blutende Wunden innerhalb von 15 bis 30 Sekunden abdichten“, betont Studienleiter Hyunwoo Yuk.
Zudem greift der Seepocken-leim selbst dann, wenn das Blut mit Heparin verdünnt wurde. Er ist also eine Alternative für das Millionenheer kardiologischer Patienten, die aufgrund ihrer blutverdünnenden Medikamente immer wieder mit Nachblutungen und einem schlechten Wundverschluss zu tun haben. Offen bleibt freilich, wann er reif für die klinische Anwendung ist. Am besten bald, denn der heiß gelaufene Wundversorgungsmarkt – allein die Apotheken erwirtschaften damit fast 700 Millionen Euro pro Jahr – braucht dringend Behandlungsalternativen, bei denen es nicht nur um Kompressen, Mullbinden und dergleichen geht, sondern auch um die konkrete Wundheilung. Dies würde nicht nur viel Geld, sondern auch viel Leid ersparen.
Immerhin wird international mehr denn je an diesen Behandlungsmethoden geforscht. Dabei orientiert man sich, wie bei den Seepocken, oft an der Tierwelt. So forscht man an der Medizinischen Hochschule Hannover an einem Enzym namens Ambloxe. Es stammt ursprünglich vom Axolotl, der damit ganze Extremitäten neu ausbilden kann. Das klappt beim Menschen nicht. Aber zumindest reicht es bei ihm, so die Mh-forscher, zu einem schnelleren Wundverschluss, wenn man die Fibroblasten seines Bindegewebes mit einem Ambloxe-gen ausstattet.
Das Krankenhaus Buchholz mit seiner Gefäßchirurgie ist derzeit Standort eines Eu-geförderten Forschungsprojekts, bei dem es um die Wundversorgung mit einer Fischhaut-matrix geht. Sie stammt vom isländischen Dorsch und sieht in der Verpackung aus wie ein altes Knäckebrot. In Salzlake aufgeweicht lässt sie sich jedoch passgenau in die Wunde setzen, wo sie – über die Vermehrung pluripotenter Stammzellen– quasi zu menschlichem Gewebe umgewandelt wird. „Wir haben beobachtet, dass sich dadurch Wunden schließen, bei denen sich zuvor über Wochen und Monate kein Heilungsprozess mehr abgezeichnet hatte“, berichtet Chefarzt und Projektleiter Holger Diener. In den USA ist das Fisch-produkt bereits als Medizinprodukt zugelassen. Mitunter wird es bei den „tierischen“Therapiemethoden aber auch ekelhaft. Dann nämlich, wenn sich Fliegenmaden über eine Wunde hermachen. In den 1930ern waren sie schon ein medizinischer Hit, doch sie gerieten in Vergessenheit, weil man mit Penicillin und Sulfonamiden einfachere und kostengünstigere Waffen zur antibiotischen Wundbehandlung gefunden hatte. Aber die wurden dann wegen zunehmender Resistenzen immer stumpfer, und so kehren die Maden wieder in die Krankenhäuser zurück, auch in Deutschland.
Wie etwa an der Helios-st.-elisabeth-klinik in Oberhausen. Der dortige Chef-dermatologe Alexander Kreuter schätzt die Maden als „Mikro-chirurgen“, die abgestorbenes Gewebe aus der Wunde entfernen und mit ihrem Speichel das Bakterienwachstum hemmen. „Sie können sogar multiresistente Keime eliminieren“, so Kreuter, der die Tiere bei infizierten, chronischen und stark belegten Wunden einsetzt. Eine aktuelle Studie der Cardiff University sieht allerdings deren Stärke weniger in ihrer antibakteriellen Kraft als darin, dass sie das Entstehen von neuem Gewebe ankurbeln. Wenn die Maden ihre Arbeit getan haben, gehören sie frühzeitig entfernt. Denn sonst fallen sie auf die Matratze, wo sie sich verpuppen und schließlich zu Schmeißfliegen werden. Und die wiederum will im Krankenhaus niemand haben.
Hartnäckig hält sich übrigens bis heute der Mythos, wonach Wunden besser heilen, wenn man Luft an sie heranlässt. Dabei entdeckte der britische Arzt George Winter schon in den 1960er-jahren, dass ein feuchtes Wundmilieu die weitaus bessere Alternative ist. Denn bei einer offenen Verletzung bildet der Körper ein Sekret, das Nähr- und Botenstoffe herbringt und umgekehrt Bakterien, Schmutz und abgestorbene Gewebeteile abtransportiert. Wenn man sie aber nicht abdeckt, trocknet die Wunde aus. Es bildet sich eine Kruste, unter der das Sekret nicht mehr fließen kann, so dass eine Schicht aus Keimen und anderen unerwünschten Bestandteilen heranwächst: Der Heilungsverlauf kommt ins Stocken, und später bleibt eine Narbe zurück.
Besser also, man deckt die Wunde mit einem Pflaster, Verband oder ähnlichem ab. Die gehören allerdings regelmäßig gewechselt, um die oberste Sekretschicht mit ihren Abfällen abzutragen. Und zwar so lange, bis die Wunde keine Feuchtigkeit mehr abgibt.