Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Die Politik ist ja auch nicht interessiert“
In einigen Wahlbezirken in Garath hat bei der Bundestagswahl nur rund die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Woran liegt das? Ein Besuch im Garather Nordosten.
GARATH Nein, überrascht sind sie nicht, sagen die beiden Frauen und schütteln den Kopf. Nicht davon, dass die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl am Sonntag in Garath mit rund 62 Prozent so niedrig war wie in keinem anderen Stadtteil Düsseldorfs. Nicht davon, dass in zwei Wahlbezirken im östlichen Teil Garaths sogar nur knapp jeder Zweite seine Stimme abgab. Und auch nicht davon, dass die AFD genau in diesen Bezirken jeweils fast 20 Prozent der Zweitstimmen holte. „Man sieht das Desinteresse vieler Menschen an ihrer Umwelt und an ihren Mitmenschen hier, und Politik ist ja noch einen Schritt weiter“, sagt eine von beiden. „Und die Politik ist ja auch nicht interessiert an den Leuten hier.“
Die beiden Frauen arbeiten in Garath, wo, möchten sie nicht sagen, auch ihren Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen. So geht es vielen, die an diesem Nachmittag im Garather Nordosten unterwegs sind. Nein, sie habe nicht gewählt, sagt eine junge Frau, die ihr Kind gerade aus der Kita abgeholt hat, keine Zeit und auch keine Lust, um ehrlich zu sein. Dann eilt sie weiter. Ein anderer, der vor einer der Trinkhallen Bier trinkt, zieht nur die Augenbrauen hoch und winkt ab. „Schauen Sie sich doch mal um“, sagt er. Wohnblocks aus den 60er-jahren prägen das Bild, von denen manche schon bessere Tage gesehen haben. Es gibt ein Stadtteilzentrum mit Friseur, Fußpflegesalon und Zahnarztpraxis. Das Rauschen der nahen Autobahn 59 ist mal lauter und mal leiser, und je nachdem, wo man ist, kann man den nahen Recyclinghof riechen.
Aber das ist nicht alles: Als die Siedlung erbaut wurde, hat man auch an Grünflächen und Spielplätze gedacht. Hier leben viele Familien mit Kindern, Zahlen der Stadt zufolge ist der Anteil der Unter-18-jährigen hier fast doppelt so hoch wie in der Gesamtstadt. Auf den Fußgängerwegen durch das Viertel sieht man viele junge Eltern mit Kinderwagen, manche der Mütter tragen Kopftuch, die Gesprächsfetzen sind manchmal deutsch und manchmal nicht. Auf den Rutschen und Klettergerüsten ist es voll und auf dem Schulhof der Gemeinschaftsgrundschule Neustrelitzer Straße spielen einige Jugendliche Basketball.
In der Schule wurden am Sonntag die Stimmen aus einem der Wahlbezirke ausgezählt, in denen die Wahlbeteiligung laut einer Auswertung unserer Redaktion auf Basis von Zahlen der Stadt sogar bei unter 50 Prozent lag. Ein Paar Mitte 50 spaziert vorbei, sie hat SPD gewählt, er CDU. „Hier sind 130 Nationen unterwegs, viele davon leben unter sich“, sagt er, da sei das Interesse nicht so groß, die Sprachbarrieren seien dafür umso größer. Auch dass die AFD so stark sei, habe damit zu tun. „Warum gibt es in Oberkassel und Kaiserswerth keine Hochhäuser, wieso werden Geflüchtete nie da untergebracht, wo auch die Politiker wohnen?“, sagt er und wird immer lauter. Seine Frau formuliert es etwas vorsichtiger, aber auch sie sagt: „Man überlässt die Menschen und das Viertel sich selbst.“Viele Leute seien überfordert, sagt eine Garatherin, die ihr ganzes Leben hier verbracht hat. „Und ihnen dient die AFD sich mit ihren einfachen Parolen an.“
Natürlich habe er gewählt, und nicht die AFD, sagt ein älterer Mann, der erst vor Kurzem hierhingezogen ist. Er geht dieses Jahr in Rente, seine Wohnung in Eller konnte er sich nicht mehr leisten. „Garath hat einen schlechten Ruf“, sagt er, „vielleicht macht das was mit den Leuten.“Aber er habe den Eindruck, es ändere sich was im Viertel. Auch Kai Biebricher gehört zu denen, die ihre Stimme abgegeben haben. Seit vier Jahren wohnt der 53-Jährige mit seiner Lebensgefährtin hier. Dass manche enttäuscht sind, kann er sich gut vorstellen, dass das Interesse einfach nicht so groß ist, auch. Auch er hat schonmal nicht gewählt, „aus Desinteresse“. Diesmal habe ihn eine Partei überzeugt, aber das sei nicht immer so gewesen.
Für den Politikwissenschaftler Stefan Marschall, der an der HeineUni lehrt und forscht, sind die Parteien Teil des Problems. „Menschen mit höherem Bildungsgrad und Einkommen gehen häufiger zur Wahl, das ist bekannt“, sagt er, „doch die soziale Kluft wächst.“Inzwischen liege die Wahlbeteiligung in sozial starken Milieus bei bis zu 90 Prozent, in Vierteln mit sozialen Problemen seien es nur um die 50 Prozent. Die Gefahr sei groß, dass die Stimme dieser Menschen nicht mehr gehört werde. „Die Parteien reagieren weniger auf sie, die Kampagnen sind nicht auf sie zugeschnitten.“
Wer sich alleingelassen fühle, sei aber auch weniger engagiert. Daraus entstehe ein Teufelskreis, sagt Marschall – mit dem Ergebnis, dass die Politik an den Bedürfnissen dieser Menschen vorbeigehe. „Die Parteien und die politische Bildung sind hier in der Pflicht, die Leute zu reaktivieren.“Mit konkreten Maßnahmen vor Ort, etwa bei Sicherheit und Sauberkeit, aber auch mit besserer Kommunikation. „Sonst droht eine Demokratie, in der nur zwei Drittel der Bevölkerung repräsentiert sind.“
Für Ulrike Rudolph würden es für den Anfang schon ein paar Mülleimer tun. Seit 50 Jahren lebt sie in Garath, zur Arbeit fährt sie mit dem Rad. „Und entlang von Schulen und Kitas gibt es keinen einzigen Mülleimer.“Da passiere schlicht viel zu wenig, sagt sie, die Stadt mache es den Leuten nicht immer einfach. Dabei gebe es im Viertel einige schöne Ecken. Es gebe viele, die hier aufwachsen, dann wegziehen – und am Ende wieder zurückkommen. „Ich lebe mit Herz hier, gehe gerne im Wald spazieren.“Dann überlegt sie kurz und sagt: „Man braucht einfach kein Geld, um hier einen netten Nachmittag zu haben.“
Auch Kai Biebricher möchte bleiben. „Etwas zu verbessern gibt es immer“, sagt er, „aber es ist schön grün und mir gefällt's.“Am Sonntag hat er wie die meisten in Garath die SPD gewählt. Wegen Olaf Scholz, sagt er – und weil die Partei so wahnsinnig aufgeholt hat, nachdem sie eigentlich schon alle abgeschrieben hatten.