Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Auch Kugelstoßen kann Kunst sein
STEFAN OEHM Alle reden über Kunst. Doch was ist das eigentlich? Der Düsseldorfer Sprachwissenschaftler antwortet darauf in seinem neuen Buch.
Herr Oehm, warum ist die Frage, was es in der Kunst zu verstehen gibt, wichtig?
OEHM Seit Jahrzehnten befasse ich mich mit Kunst, mit zwei Partnern habe ich in den 90ern in Düsseldorf eine Galerie für zeitgenössische Kunst geleitet. Da lag die Frage stets nahe. Auf der anderen Seite habe ich Sprachwissenschaften studiert und mich dabei intensiv mit der Bedeutung von Begriffen befasst. Dabei fiel mir immer wieder auf, dass – auch in der Wissenschaft – man zumeist ganz selbstverständlich mit Begriffen operiert, diese aber kaum hinterfragt. So wie den Begriff „verstehen“, wenn wir über Kunstwerke reden.
In Ihrem Buch formulieren Sie eine Frage, die sich heute viele Menschen stellen: Kunst oder Kappes? Nach welchen Kriterien unterscheiden Sie die eine vom anderen? OEHM Ich unterscheide das nach gar keinen Kriterien. Denn was als Kunst gilt, ist das nicht intendierte kollektive Ergebnis intentionaler individueller Zuschreibungen, ein Resultat der unsichtbaren Hand. Ein Begriff, den Adam Smith eingeführt hat und den ich von dem Linguisten Rudi Keller übernommen habe, der ihn am Beispiel des Trampelpfads erläuterte. Wie er sich bildet, so bildet sich auch die Zuschreibung „Kunst“oder „Kappes“. Dafür gibt es keine verbindlichen Kriterien. Schon deshalb nicht, weil sie nicht nur für vergangene, sondern auch für künftige Objekte gelten müssten. Wenn morgen Kirschkernweitspucken als Kunst deklariert wird, dann wird das Kunst sein.
Ihr Buch handelt vom Begreifen von Kunst. Kunst richtet sich aber zuerst an die Sinne und erst dann vielleicht auch an den Verstand. Warum wollen Sie Kunst in Sprache übersetzen?
OEHM Ich möchte Kunst nicht in Sprache übersetzen, sondern im Gegenteil das, was ich als Kunst empfinde, zunächst wortlos genießen können. Ich möchte nur sagen, dass wir, wenn wir über Kunst reden, auf die Begriffe und bestimmte Redeweisen achten sollten. „Das Bild sagt mir etwas“ist so ein Beispiel. Hier wird von etwas Unbelebtem behauptet, es sei belebt. Das ist so, wie wenn die FDP sagt, dass der Markt sich selbst reguliert. Wie soll er das tun? Selbsttätig handeln können nur Handlungssubjekte.
Zu den Beispielen, mit denen Sie Ihre Thesen illustrieren, zählen die Kunst der australischen Aborigines, die Höhlenmalerei von Altamira, die Venus von Willendorf und der mongolische Kehlgesang. Müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass es eine einzige Kunstdefinition für alles geben kann?
OEHM Davon müssen wir uns tatsächlich verabschieden. Die Werke der Aborigines, die Höhlenmalerei oder die Venus von Willendorf finde ich mindestens so faszinierend wie die abendländische Malerei. Aber der Begriff „Kunst“ist nun einmal ein Begriff, der aus der abendländisch-hellenistischen Tradition stammt. Andere Kulturen haben andere Denktraditionen. Projizieren wir den Begriff „Kunst“auf andere Kulturen oder vergangene Zeitalter, so ist das nicht angemessen.
Diese Übertragung bedeutet ja auch, dass etwas Kultisches unter rein ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet wird.
OEHM Das stimmt. „Kunst“ist in Wirklichkeit oft Kult oder Ritual.
Jetzt möchte ich Sie mit einer Minimaldefinition von Kunst konfrontieren und Sie fragen, ob Sie zustimmen: Kunst ist, was als solche ausgegeben und von anderen als solche aufgefasst wird. Punkt. Da hätte die Venus von Willendorf ebenso ihren Platz wie die Wandmalerei von Banksy. Und es wäre auch eine Antwort auf Ihre im
Buch gestellte Frage, warum Kugelstoßen keine Kunst ist.
OEHM Im Grunde stimmt die Definition. Das hört sich jetzt vielleicht etwas lax an, aber letztlich läuft es darauf hinaus: Kunst ist, was in einer Gesellschaft als Kunst aufgefasst wird. Aber schon morgen kann das anders sein. Es gibt keine ewig gültigen Kriterien. Vielleicht wird ja eines Tages jemand in San Francisco oder in Berlin in seinem Atelier sitzen und Kugelstoßen zur Kunst erklären. Und sollte sich seine Ansicht durchsetzen, dann wird genau dies Kunst sein.
Sie zitieren Susan Sontag mit den Worten: „Die Kunst ist Verführung, nicht Vergewaltigung. Aber sie kann nicht verführen, wenn die Mitwirkung des erlebenden Subjekts ausbleibt.“Wie könnte solch eine Mitwirkung aussehen?
OEHM Künstlerinnen und Künstler erschaffen Werke. Aber ein Bild, das keiner sieht, ist kein Bild. Die Rezeption ist dem künstlerischen Prozess immanent – der Maler, die Malerin sind stets Rezipienten ihres Schaffens. Aber erst dadurch, dass ein anderer sich von einem Werk verführt fühlt, wird es durch seine Mitwirkung als erlebendes Subjekt zu einem Kunst-werk – und zu einem Kunstwerk wird es eben allein durch die kollektive Zuschreibung.
Zurück zu Ihrer Ausgangsfrage:
Was gibt es in der Kunst zu verstehen? Gibt es womöglich viel mehr zu erfühlen als zu verstehen?
OEHM Nehmen wir Picasso als Beispiel: „Guernica“ist ein Werk, mit dem er etwas zu verstehen gegeben hat. Aber seine Keramiken? Geht es da um ein Verstehen? In der Kommunikation geht es darum, bei dem anderen etwas zu bewirken. Verstehen ist da nur eine von vielen Formen dieses Bewirkens. Christo wollte beim Betrachter kein Verstehen bewirken. Er wollte, dass Sie vor seinen Werken stehen und staunen wie ein kleines Kind. Oder um mit Susan Sontag zu reden: dass Sie sich verführen lassen.