Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die Türkei steht unter Schock
Nach Tausenden Opfern wächst die Kritik an der Regierung. Experten hatten vor dem Erdbeben gewarnt – und befürchten weitere.
ISTANBUL Leichen auf den Straßen, Hilfeschreie aus Trümmerbergen, Obdachlose im Schnee: In Teilen des Erdbebengebietes im Südosten der Türkei bietet sich nach der Katastrophe ein apokalyptisches Bild. Viele Opfer des Unglücks warteten am Dienstag noch darauf, aus zerstörten Häusern befreit zu werden, Lokalpolitiker riefen verzweifelt nach Hilfe. „Wir brauchen Bergungsteams“, forderte Lütfü Savas, Bürgermeister von Antakya, der Hauptstadt der Provinz Hatay an der syrischen Grenze. Außerdem drohe vielen Menschen der Tod durch Unterkühlung, mahnte Savas im Fernsehen. So weit hätte es nicht kommen müssen, sagen türkische Erdbebenforscher. Sie warnten seit Jahren vor einem schweren Erdbeben in Region, wurden aber ignoriert. Jetzt wächst die Kritik an der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
„Hier liegen Hunderte Leichen, und Tausende Überlebende sitzen im Regen“, berichtete Firat Yayla, ein junger Mann aus Hatay, der sich aus den Trümmern eines zusammengestürzten Hauses befreien konnte, seine Mutter aber dort zurücklassen musste. In der Stadt Malatya, die zu den am schwersten betroffenen Orten gehört, plünderten hungrige Erdbebenopfer die Lebensmittelläden in halbzerstörten Gebäuden, wie die Nachrichtenseite Duvar meldete.
Allein in Hatay wurden etwa 1200 Gebäude zerstört, und die Rettungsarbeiten kamen dort nur langsam voran. Obdachlose übernachteten in Autos, bevor sie am Morgen die Suche nach Verschütteten fortsetzten. Bürgermeister Savas sagte, alle Räumfahrzeuge der Stadtverwaltung seien zwar im Einsatz, aber: „Das ist nichts, was wir als Stadt stemmen können.“
Mehr als 50.000 Helfer aus dem In- und Ausland – darunter Spezialisten aus Deutschland, Israel und Russland – suchten nach türkischen Regierungsangaben am Dienstag im Erdbebengebiet nach Überlebenden. Auch die Armee wurde in den Katastropheneinsatz geschickt.
Hin und wieder melden die Bergungsteams einen Erfolg. In Hatay konnte ein Rettungsteam aus Istanbul am Dienstag ein achtjähriges Mädchen lebend aus einem zerstörten Haus ziehen, und auch andernorts konnten Opfer lebend aus den Trümmern befreit werden. Doch die Zerstörungen reichen von
Adana an der Mittelmeerküste bis Diyarbakir rund 400 Kilometer weiter östlich. Dazwischen liegen Gegenden wie Hatay und die Provinzen Kahramanmaras und Adiyaman, wo besonders viele Häuser in sich zusammenbrachen. Dort fehlt es vielerorts an Benzin und Strom.
Unterdessen machten sich Tausende Türken mit ihren Autos ins Unglücksgebiet auf, um Verwandte zu suchen. Wegen des Verkehrs sperrten die Behörden die Straßen in besonders betroffenen Regionen für alle Fahrzeuge, die nicht zu den Bergungsteams gehörten.
Die Zahl der Toten lag nach den letzten Angaben von Dienstagabend bei etwa 7200. Mehr als 5430 Menschen starben allein in der Türkei. Internationale Organisationen schätzen allerdings, dass das gesamte Ausmaß des Unglücks noch nicht erfasst worden ist. Die Suche nach Überlebenden sei „ein Wettlauf gegen die Zeit“, sagte der Chef der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, am Dienstag in Genf. Das UNKinderhilfswerk Unicef erklärte, das schwere Erdbeben habe möglicherweise auch Tausende Kinder in der Türkei und in Syrien getötet.
Der Geologe Naci Görür brach in Tränen aus, als er von dem Erdbeben hörte. Er habe lange geweint, sagte der 76-Jährige dem türkischen Sender FOX-TV – nicht nur um die Toten, sondern weil das Unglück viel weniger Menschen das Leben gekostet hätte, wenn der Staat richtig vorbereitet gewesen wäre. Es sei absehbar gewesen, dass die Gegend um Kahramanmaras in höchster Gefahr sei: „Jeder vernünftige Geologe in der Türkei, jeder Geophysiker hat das gewusst und gewarnt.“
Görür ist ein Rufer in der Wüste. Seit drei Jahren warnte er auf der Grundlage von Daten früherer
Erdbeben, dass der nächste schwere Schlag Kahramanmaras treffen werde. Zuletzt hatte er drei Tage vor dem Unglück seine Warnung wiederholt. „Ich habe mir den Mund fusselig geredet“, um regionale Behörden und die Regierung in Ankara zu warnen, sagt er. Doch die Mühe war vergebens: „Nie hat einer auch nur gefragt, was passieren kann und was man dagegen unternehmen kann – nichts.“
Warum hat niemand reagiert? Görürs Kollege Celal Sengör sieht ein ideologisches Problem hinter der Untätigkeit: „Um der Erdbebengefahr zu begegnen, muss man verstehen, womit man es zu tun hat“, sagte Sengör dem Fernsehsender Habertürk. Die naturwissenschaftliche Ausbildung müsse in der Grundschule beginnen, doch die Regierung habe Erdkunde zugunsten von mehr Religion aus dem Lehrplan gestrichen. Der prominente Erdbebenforscher stand voriges Jahr vor Gericht, weil er in einer FernsehTalkshow gesagt hatte, den biblischen Stammvater Abraham habe es in Wirklichkeit nicht gegeben.
An sich sei es nicht schwer, Straßen und Häuser erdbebengerecht zu bauen oder nachzurüsten, sagen Experten. Bei seinem eigenen Haus habe das nur ein bis zwei Tage gedauert, sagt Sengör. Für die Metropole Istanbul mit ihren 16 Millionen Menschen erwartet der Wissenschaftler ein Beben der Stärke von 7,7: „Wir müssen vorbereitet sein.“
Doch der Staat unternehme nichts, kritisiert Habertürk-moderator Fatih Altayli. Nach der Katastrophe von Kahramanmaras werde nun von den Politikern sicher wieder zu hören sein, dass alles Nötige unternommen werde. Dabei stürzten bei dem Beben sogar staatliche Gebäude wie Krankenhäuser und Rathäuser in sich zusammen, der Flughafen in Hatay ist wegen Erdbebenschäden nicht nutzbar. Der Vorsitzende der türkischen Bauingenieurkammer, Taner Yüzgec, warf der Regierung im Interview mit T 24 vor, sie habe bei öffentlichen Gebäuden nicht die vorgeschriebenen Erdbebenverstärkungen veranlasst. Ohne diese Verstärkungen hätten die Gebäude abgerissen und neu gebaut werden müssen, aber auch das sei nicht geschehen.
Erdogans Regierung bestreitet Versäumnisse. Das einzige Problem seien die Falschinformationen in den sozialen Medien, sagte Finanzminister Nureddin Nebati bei einem Besuch im Unglücksgebiet.
Weil das offensichtlich nicht stimmt, wächst der Unmut über die Regierung. „Man hat uns im Stich gelassen“, sagte der Oppositionspolitiker Baris Atay, der die Provinz Hatay für die Linkspartei TIP im türkischen Parlament vertritt.
Die Katastrophe dürfte zum Wahlkampfthema werden. Am Dienstag besuchte Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai gegen Erdogan antreten will, das Erdbebengebiet. Bisher blockt Erdogan die wachsende Kritik an Mängeln bei den Rettungsarbeiten mit dem Hinweis auf die Dimension der Katastrophe ab: Das Unglück vom Montag sei „eines der größten der Weltgeschichte“gewesen.