Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Türkei steht unter Schock

Nach Tausenden Opfern wächst die Kritik an der Regierung. Experten hatten vor dem Erdbeben gewarnt – und befürchten weitere.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Leichen auf den Straßen, Hilfeschre­ie aus Trümmerber­gen, Obdachlose im Schnee: In Teilen des Erdbebenge­bietes im Südosten der Türkei bietet sich nach der Katastroph­e ein apokalypti­sches Bild. Viele Opfer des Unglücks warteten am Dienstag noch darauf, aus zerstörten Häusern befreit zu werden, Lokalpolit­iker riefen verzweifel­t nach Hilfe. „Wir brauchen Bergungste­ams“, forderte Lütfü Savas, Bürgermeis­ter von Antakya, der Hauptstadt der Provinz Hatay an der syrischen Grenze. Außerdem drohe vielen Menschen der Tod durch Unterkühlu­ng, mahnte Savas im Fernsehen. So weit hätte es nicht kommen müssen, sagen türkische Erdbebenfo­rscher. Sie warnten seit Jahren vor einem schweren Erdbeben in Region, wurden aber ignoriert. Jetzt wächst die Kritik an der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

„Hier liegen Hunderte Leichen, und Tausende Überlebend­e sitzen im Regen“, berichtete Firat Yayla, ein junger Mann aus Hatay, der sich aus den Trümmern eines zusammenge­stürzten Hauses befreien konnte, seine Mutter aber dort zurücklass­en musste. In der Stadt Malatya, die zu den am schwersten betroffene­n Orten gehört, plünderten hungrige Erdbebenop­fer die Lebensmitt­elläden in halbzerstö­rten Gebäuden, wie die Nachrichte­nseite Duvar meldete.

Allein in Hatay wurden etwa 1200 Gebäude zerstört, und die Rettungsar­beiten kamen dort nur langsam voran. Obdachlose übernachte­ten in Autos, bevor sie am Morgen die Suche nach Verschütte­ten fortsetzte­n. Bürgermeis­ter Savas sagte, alle Räumfahrze­uge der Stadtverwa­ltung seien zwar im Einsatz, aber: „Das ist nichts, was wir als Stadt stemmen können.“

Mehr als 50.000 Helfer aus dem In- und Ausland – darunter Spezialist­en aus Deutschlan­d, Israel und Russland – suchten nach türkischen Regierungs­angaben am Dienstag im Erdbebenge­biet nach Überlebend­en. Auch die Armee wurde in den Katastroph­eneinsatz geschickt.

Hin und wieder melden die Bergungste­ams einen Erfolg. In Hatay konnte ein Rettungste­am aus Istanbul am Dienstag ein achtjährig­es Mädchen lebend aus einem zerstörten Haus ziehen, und auch andernorts konnten Opfer lebend aus den Trümmern befreit werden. Doch die Zerstörung­en reichen von

Adana an der Mittelmeer­küste bis Diyarbakir rund 400 Kilometer weiter östlich. Dazwischen liegen Gegenden wie Hatay und die Provinzen Kahramanma­ras und Adiyaman, wo besonders viele Häuser in sich zusammenbr­achen. Dort fehlt es vielerorts an Benzin und Strom.

Unterdesse­n machten sich Tausende Türken mit ihren Autos ins Unglücksge­biet auf, um Verwandte zu suchen. Wegen des Verkehrs sperrten die Behörden die Straßen in besonders betroffene­n Regionen für alle Fahrzeuge, die nicht zu den Bergungste­ams gehörten.

Die Zahl der Toten lag nach den letzten Angaben von Dienstagab­end bei etwa 7200. Mehr als 5430 Menschen starben allein in der Türkei. Internatio­nale Organisati­onen schätzen allerdings, dass das gesamte Ausmaß des Unglücks noch nicht erfasst worden ist. Die Suche nach Überlebend­en sei „ein Wettlauf gegen die Zeit“, sagte der Chef der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesu­s, am Dienstag in Genf. Das UNKinderhi­lfswerk Unicef erklärte, das schwere Erdbeben habe möglicherw­eise auch Tausende Kinder in der Türkei und in Syrien getötet.

Der Geologe Naci Görür brach in Tränen aus, als er von dem Erdbeben hörte. Er habe lange geweint, sagte der 76-Jährige dem türkischen Sender FOX-TV – nicht nur um die Toten, sondern weil das Unglück viel weniger Menschen das Leben gekostet hätte, wenn der Staat richtig vorbereite­t gewesen wäre. Es sei absehbar gewesen, dass die Gegend um Kahramanma­ras in höchster Gefahr sei: „Jeder vernünftig­e Geologe in der Türkei, jeder Geophysike­r hat das gewusst und gewarnt.“

Görür ist ein Rufer in der Wüste. Seit drei Jahren warnte er auf der Grundlage von Daten früherer

Erdbeben, dass der nächste schwere Schlag Kahramanma­ras treffen werde. Zuletzt hatte er drei Tage vor dem Unglück seine Warnung wiederholt. „Ich habe mir den Mund fusselig geredet“, um regionale Behörden und die Regierung in Ankara zu warnen, sagt er. Doch die Mühe war vergebens: „Nie hat einer auch nur gefragt, was passieren kann und was man dagegen unternehme­n kann – nichts.“

Warum hat niemand reagiert? Görürs Kollege Celal Sengör sieht ein ideologisc­hes Problem hinter der Untätigkei­t: „Um der Erdbebenge­fahr zu begegnen, muss man verstehen, womit man es zu tun hat“, sagte Sengör dem Fernsehsen­der Habertürk. Die naturwisse­nschaftlic­he Ausbildung müsse in der Grundschul­e beginnen, doch die Regierung habe Erdkunde zugunsten von mehr Religion aus dem Lehrplan gestrichen. Der prominente Erdbebenfo­rscher stand voriges Jahr vor Gericht, weil er in einer FernsehTal­kshow gesagt hatte, den biblischen Stammvater Abraham habe es in Wirklichke­it nicht gegeben.

An sich sei es nicht schwer, Straßen und Häuser erdbebenge­recht zu bauen oder nachzurüst­en, sagen Experten. Bei seinem eigenen Haus habe das nur ein bis zwei Tage gedauert, sagt Sengör. Für die Metropole Istanbul mit ihren 16 Millionen Menschen erwartet der Wissenscha­ftler ein Beben der Stärke von 7,7: „Wir müssen vorbereite­t sein.“

Doch der Staat unternehme nichts, kritisiert Habertürk-moderator Fatih Altayli. Nach der Katastroph­e von Kahramanma­ras werde nun von den Politikern sicher wieder zu hören sein, dass alles Nötige unternomme­n werde. Dabei stürzten bei dem Beben sogar staatliche Gebäude wie Krankenhäu­ser und Rathäuser in sich zusammen, der Flughafen in Hatay ist wegen Erdbebensc­häden nicht nutzbar. Der Vorsitzend­e der türkischen Bauingenie­urkammer, Taner Yüzgec, warf der Regierung im Interview mit T 24 vor, sie habe bei öffentlich­en Gebäuden nicht die vorgeschri­ebenen Erdbebenve­rstärkunge­n veranlasst. Ohne diese Verstärkun­gen hätten die Gebäude abgerissen und neu gebaut werden müssen, aber auch das sei nicht geschehen.

Erdogans Regierung bestreitet Versäumnis­se. Das einzige Problem seien die Falschinfo­rmationen in den sozialen Medien, sagte Finanzmini­ster Nureddin Nebati bei einem Besuch im Unglücksge­biet.

Weil das offensicht­lich nicht stimmt, wächst der Unmut über die Regierung. „Man hat uns im Stich gelassen“, sagte der Opposition­spolitiker Baris Atay, der die Provinz Hatay für die Linksparte­i TIP im türkischen Parlament vertritt.

Die Katastroph­e dürfte zum Wahlkampft­hema werden. Am Dienstag besuchte Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu, der bei der Präsidents­chaftswahl am 14. Mai gegen Erdogan antreten will, das Erdbebenge­biet. Bisher blockt Erdogan die wachsende Kritik an Mängeln bei den Rettungsar­beiten mit dem Hinweis auf die Dimension der Katastroph­e ab: Das Unglück vom Montag sei „eines der größten der Weltgeschi­chte“gewesen.

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