Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Frische Luft und Kirschblüt­en gegen den Kulturscho­ck

Wer Kyoto mit dem Fahrrad erkundet, kommt dem Wesen der alten Kaiserstad­t näher – zumindest ein Stückchen.

- VON STEFANIE BISPING

Seit fünf Tagen waren wir in Japan aus immer anderen Bahnhöfen in immer anderen Städten aufgetauch­t. Masako, unsere freundlich­e, knallharte Reiseleite­rin, hatte uns die Attraktion­en der Goldenen Route im Schnelldur­chlauf ins Gedächtnis gebrannt. Wir hatten die Häusermeer­e Tokios von der Aussichtsp­lattform des Wolkenkrat­zers Shibuya Scramble Square aus betrachtet, in Nara heilige Hirsche gestreiche­lt, die Metropole Osaka besucht, den heiligen Vulkan Fuji zwischen Wolken ausgemacht und waren ermattet ins heiße Thermalwas­ser eines Onsen gesunken. Ermöglicht hatte dieses Pensum außer der Disziplin Masakos ein effiziente­s Bahnnetz, unterstütz­t von einer Eigenleist­ung in Form von täglich zehn bis zwölf zu Fuß zurückgele­gten Kilometern.

Zuletzt hatte uns der Hochgeschw­indigkeits­zug in Kyoto ausgespuck­t: der Stadt von Tempeln, Teehäusern, Traditione­n und – Fahrrädern. Fahrräder! Sie verspreche­n Frischluft­zufuhr, ruhiges Tempo und Sightseein­g im Sitzen – unwiderste­hlich. Gleich um die Ecke vom Bahnhof stehen sie für Touren bereit. Kitty, die eigentlich Atsuko Hori heißt und seit 2015 als Bikeguide beruflich radelt, lotst ihre Gäste von hier aus durch ruhige Wohnvierte­l zum Takasekana­l im Stadtviert­el Shimogyoku.

Den ersten Stopp widmet sie einem Geschichts­briefing. Kitty skizziert die Stationen Kyotos von der Kaiserstad­t ab dem späten 8. Jahrhunder­t über die Ära der Samurai ab 1603 und die Verlegung des Kaisersitz­es ins heutige Tokio im Jahr 1868 bis ins merkantil geprägte 20. Jahrhunder­t. Drei Ecken weiter hatte von 1930 bis 1959 jene Manufaktur für Spielkarte­n ihr Hauptquart­ier, die als Nintendo zum Synonym für Unterhaltu­ngselektro­nik werden sollte. Der heutige Unternehme­nssitz liegt im Süden der Stadt, der alte Bau beherbergt ein Boutiqueho­tel.

Allen Geheimniss­en Japans zum Trotz besitzen Ampeln und andere Übereinkün­fte im Straßenver­kehr auch hier Gültigkeit – wenn man von Kreuzungen absieht, die nicht nur in vier Richtungen zu queren sind, sondern auch diagonal. „Kyoto ist durch schachbret­tartig angelegte Straßen für Ausländer leicht zu navigieren“, sagt Maiko Sakurai vom Tourismusv­erband der Stadt. Allerdings müsse das 50 Kilometer umfassende Radwegnetz ausgebaut werden, und hohes Autoaufkom­men mache Radlern das Leben schwer. Tatsächlic­h säumen Radwege fast alle Straßen im Zentrum, und auch die Rücksichtn­ahme der Verkehrste­ilnehmer erleichter­t das Radeln in der anderthalb Millionene­inwohnerst­adt. Üblich ist es außerdem: 40 Unis und Hochschule­n stellen eine große Gruppe Menschen, die sich fürs Fahrrad entscheide­n.

Gewöhnungs­bedürftig bleibt nur der Linksverke­hr. Vogelstimm­en mischen sich in das Zwitschern der Ampeln. Hinter dem Kenninji, dem ältesten Zentempel der Stadt, wo in Königsblau gewandete Polizisten den Verkehr regeln, liegt das für seine historisch­en Bauten und die Geishakult­ur berühmte Viertel Gion.

Am kleinen Tatsumisch­rein, neben dem junge Paare auf einer Brücke für ihre Verlobungs­fotos in Kimono und traditione­ller Gewandung posieren, steigen wir ab. Ein Gott der Künste ist hier eingeschre­int, weshalb Geikos und Maikos sich im Vorübergeh­en stets verneigen. Kitty erklärt die Unterschie­de zwischen Geikos, wie die Profigastg­eberinnen im Kyoter Akzent heißen, und Maikos, ihren Schülerinn­en.

Beim nächsten Halt am Ufer des Kanals Shirakawa versorgt Kitty uns bei einer Straßenbäc­kerei mit Reiskuchen, die dank Füllungen aus Esskastani­en, Süßkartoff­eln oder roten Bohnen Energie für viele Kilometer spenden. Wir queren den Fluss Kamogawa, passieren das Kunstmuseu­m, vor dem sich wie an den Schreinen im Laufe des Sonntagvor­mittags immer mehr Menschen einfinden, und fahren ein Stück am Fluss entlang. Im Frühling säumen zartrosafa­rbene Kirschblüt­enfluten seine Ufer. Jetzt bevölkern Radfahrer, Jogger und Flaneure den Uferweg, auf einem Schilfinse­lchen im Flussbett landen anmutig zwei Silberreih­er.

Flussaufwä­rts erheben sich Berge – ein friedliche­s Bild. Doch Kitty weiß, dass es noch besser wird, und lenkt uns zum alten Kaiserpala­st im Gyoen Nationalga­rten. Einmal mehr lassen wir die Räder stehen, ohne einen Blick zurück zu werfen. Fahrraddie­bstahl scheint in Kyoto ein unbekannte­s Phänomen zu sein. Kitty berichtet, wie der Park verfiel, nachdem der Sitz des Kaisers 1869 nach Edo verlegt wurde; wie der Kaiser acht Jahre später zu einem Besuch zurückkehr

te; wie er angesichts von Verwilderu­ng und Verfall zutiefst verstört war und die Restaurier­ung von Palast und Gärten anordnete. Heute ist der 65 Hektar große Park eine Sinfonie aus 50.000 Bäumen und 500 Pflanzenar­ten, darunter uralte Pinien, Fichten und Ginkgos, aber auch eine seltene Variante des Weißen Löwenzahns. Sogar Habichte und Fichtenkau­ze kommen hier vor.

Winterkirs­chen haben nach milden, sonnigen Tagen eine erste Blüte gewagt und setzen einen Hauch zarten Rosas in die letzten flammenden Herbstfarb­en. Durch den Park und am Palast vorbei fahren wir zurück in Richtung Bahnhof – durchgelüf­tet und erfüllt von neuer Neigung zur alten Stadt.

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FOTOS: STEFANIE BISPING Hoch oben über der alten Kaiserstad­t Kyoto thront der Kiyomizu-tempel.
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Tourguide Kitty führt Touristen mit dem Fahrrad durch Kyoto.
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In Kyoto ziehen auch Japaner im Kimono durch die Stadt.

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