Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Das Ringen um einen Hilfskorridor
Das syrische Erdbebengebiet ist zum Teil in Rebellenhand. Präsident Assad will die Region aushungern lassen – Hilfe kommt nicht durch.
IDLIB/ISTANBUL Die Helfer der Weißhelme graben sich vorsichtig durch die Trümmer eines Hauses in dem Dorf Bisnia in der syrischen Rebellenprovinz Idlib. Dann brechen sie in Jubel aus: Sie können eine fünfköpfige Familie fast unverletzt aus dem Haus ziehen, wie ein Video der Hilfsorganisation zeigt. Doch solche Erfolge sind selten. Die Hilfe im Erdbebengebiet wird nicht nur durch das Winterwetter und einen Mangel an schwerem Gerät behindert, sondern auch durch machtpolitische Winkelzüge von Präsident Baschar al-assad in Damaskus.
Mehr als 2600 Menschen kamen im Norden Syriens bei dem Erdbeben vom Montag ums Leben. Etwa die Hälfte von ihnen starb in Assads Herrschaftsbereich um die Wirtschaftsmetropole Aleppo, die andere Hälfte der Opfer wurde in der Provinz Idlib und anderen Teilen des Rebellengebietes im Nordwesten des Landes an der Grenze zur Türkei gezählt, wo sich vier Millionen Menschen vor Assads Truppen in Sicherheit gebracht haben. „Wir verbrauchen derzeit unsere Vorräte“, sagte Fadel Hijazi, Koordinator für die Bereiche Gesundheit und Ernährung bei der Hilfsorganisation Hihfad im Nordwesten Syriens, unserer Redaktion. Man brauche Medikamente und Nahrungsmittel.
Nun versucht Assad, die Katastrophe für seine Zwecke auszunutzen. Die türkischen Straßen nach Bab alHawa, dem einzigen Grenzübergang für Un-hilfslieferungen nach Idlib, waren zunächst nicht mehr passierbar. Am Mittwoch verkündete dann der Who-vertreter in der Türkei, Batir Berdiklischew, dass eine beschädigte Straße zwischen den beiden Ländern so weit repariert worden sei, dass Hilfsgüter befördert werden könnten. Die Weltgesundheitsorganisation könne so die Opfer in Nordsyrien mit Notfallmaterial aus einem Lager in der Türkei versorgen.
Zudem seien zwei Frachtmaschinen mit Material startbereit. Die erste soll am Donnerstag, die zweite am Freitag in Damaskus eintreffen. Die Uno verhandelt seit Tagen mit Assads Regierung über Hilfslieferungen nach Idlib – auch über syrisches Regierungsgebiet. Doch Damaskus stellt Bedingungen. Natürlich könne die Hilfe nach Idlib rollen, sagte Außenminister Faisal Mekdad dem libanesischen Fernsehsender AlMajadin. Voraussetzung sei jedoch, dass die Hilfsgüter nicht den „Terroristen“in der Rebellenprovinz in die Hände fielen. Da Assad alle Gegner als „Terroristen“bezeichnet, könnte diese Bedingung die Un-lieferungen über syrisches Regierungsgebiet behindern.
Assad sucht schon lange nach einem Weg, die Rebellen in Idlib erpressen und aushungern zu können. Sein Verbündeter Wladimir Putin hat deshalb im Un-sicherheitsrat bis auf Bab al-hawa alle Grenzübergänge aus der Türkei, dem Irak und aus Jordanien ins Rebellengebiet für die Un-lastwagen sperren lassen. Der Westen fordert, weitere türkische Übergänge für die Erdbebenhilfe in Nordwest-syrien zu öffnen, doch bisher gibt es dafür keine Genehmigung aus Moskau und Damaskus. Das Erdbeben bietet Assad zudem die Möglichkeit, eine andere Forderung neu zu beleben: Seine Regierung macht die westlichen Sanktionen gegen sein Regime für das Elend im syrischen Erdbebengebiet verantwortlich und fordert die Abschaffung aller Strafmaßnahmen. Assad versucht auch, die internationale Isolation seines Regimes wegen des langen Bürgerkrieges weiter aufzuweichen. Seine Regierung hat in den vergangenen Tagen zwar bei Weitem nicht so viel internationale Hilfe erhalten wie der Nachbar Türkei. Doch völlig allein steht Syrien nicht. Bergungsteams aus Algerien trafen in Syrien ein, und auch Russland, Libyen, der Iran, der Irak, Indien und sogar enge Partner des Westens wie Ägypten, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate schicken Hilfe. Am Dienstag beantragte Syrien offiziell Hilfe bei der Europäischen Union.
Ob Assad mit seiner Taktik durchkommt, ist offen. Bisher lehnt der Westen jede Zusammenarbeit mit dem syrischen Machthaber ab. Gebraucht werde ein „humanitärer Zugang“in Syrien, sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Das Us-außenministerium erklärte, es wäre „kontraproduktiv“, das Assad-regime in die Hilfe einzubinden.
Ziel der Us-regierung sei es, Hilfe „ohne direkten Kontakt mit dem Assad-regime“zu den Bedürftigen zu bringen, sagte der Nahost-experte und frühere Un-berater Joe Macaron unserer Redaktion. Eine Kooperation mit Assad sei da schwer vorstellbar. Die Situation verschlimmert das Leid der Opfer, wie Qutaiba Idlibi, Syrien-experte bei der USDenkfabrik Atlantic Council, auf Twitter schrieb: Das Einzige, was derzeit über den Grenzübergang Bab al-hawa nach Nordwest-syrien gelange, seien die Leichen von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei, die beim Erdbeben getötet wurden.