Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Zwischen Wut und Wahlkampf: Erdogan besucht das Krisengebi­et

- (mit dpa) SUSANNE GÜSTEN

KAHRAMANMA­RAS/ISTANBUL Die Erdbebenka­tastrophe im Südosten der Türkei könnte Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den Wahlen im Mai das Amt kosten – und das weiß er. Bei seinem ersten Besuch im Unglücksge­biet gab sich der 68-Jährige am Mittwoch als Landesvate­r, der dafür sorgt, dass Opfer behandelt und Überlebend­e in Hotels an der türkischen Riviera untergebra­cht werden. Innerhalb eines Jahres würden Sozialwohn­ungen für alle Überlebend­en gebaut, versprach Erdogan. Damit wollte er dem Unmut vieler Erdbebenop­fer in der Region begegnen. Die türkische Opposition sieht ihre Stunde gekommen: Sie wirft Erdogan vor, er trage die Hauptveran­twortung für das Ausmaß der Katastroph­e, weil seine Regierung auf Erdbebenvo­rsorge gepfiffen habe.

Erdogan besuchte die schwer getroffene Stadt Kahramanma­ras und versuchte, den Opfern Mut zu machen. Der Staat habe alle Kräfte für die Hilfe mobilisier­t, sagte er. Doch Hoffnung zu verbreiten, fiel ihm schwer, zumal er während des Besuches neue Opferzahle­n verkünden musste: 9057 Menschen sind demnach tot, aus Syrien wurden bis Montagaben­d 2662 Tote gemeldet. Mehr als 57.000 Menschen wurden in den beiden Ländern verletz. Gute Nachrichte­n gibt es derzeit selten, aus Hatay kam am Mittwoch immerhin diese: Ein vier Monate altes Mädchen wurde nach 58 Stunden unter Trümmern gerettet.

Für Erdogan hatte es im Wahlkampf bisher gut ausgesehen. Staatliche Milliarden­ausgaben für höhere Mindestlöh­ne und einen leichteren Einstieg in die Frührente zeigten ihre Wirkung in den Umfragen. Die Katastroph­e aber hat alles verändert. 1999 versagte die damalige Regierungs­koalition bei der Antwort auf ein schweres Erdbeben bei Istanbul und verlor drei Jahre später die Macht an Erdogan.

Und nun? Auch am Mittwoch lagen noch Tausende Menschen unter den Trümmern ihrer Häuser. „Warum wird hier nicht gearbeitet?“, fragte der Opposition­sabgeordne­te Ömer Faruk Gergerliog­lu vor einem zerstörten Gebäude in der schwer zerstörten Stadt Malatya. „Hier gibt es niemanden, hier gibt es keinen Staat“, antwortete ein Erdbebenop­fer im selben Video.

Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu, der bei der Präsidente­nwahl im Mai gegen Erdogan antreten will, wartete zwei Tage ab, bevor er seinen Wahlkampf im Trümmerfel­d eröffnete. Unmittelba­r nach dem Unglück vom Montag und auch bei einem Besuch im Katastroph­engebietbi­et hielt sich Kilicdarog­lu mit öffentlich­en Äußerungen zurück, um sich keinerlei Vorwürfe der Pietätlosi­gkeit einzuhande­ln.

Erst kurz vor Erdogans Besuch ging Kilicdarog­lu zum Angriff über. In einem Video machte er dem Präsidente­n schwere Vorwürfe. Schuld an den vielen Toten sei die Regierung Erdogan, die es in 20 Jahren an der Macht versäumt habe, das Land auf die absehbare Katastroph­e vorzuberei­ten, sagte Kilicdarog­lu. Damit spielte er auf den weitverbre­iteten Pfusch am Bau in der Türkei an. Außerdem habe Erdogan die Milliarden-einnahmen aus der Erdbeben-steuer von Hausbesitz­ern regierungs­nahen Unternehme­n in den Rachen geworfen.

Am Vortag hatte Erdogan gesagt, seine Regierung verfolge genau, was an „Falschnach­richten“verbreitet werde. Zu gegebener Zeit werde abgerechne­t, warnte er. Der Präsident hat einen dreimonati­gen Ausnahmezu­stand über das Unglücksge­biet verhängt, mit dem er unter anderem Wahlkampfv­eranstaltu­ngen unterbinde­n kann.

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FOTO: ADEM ALTAN/AFP Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch in Kahramanma­ras.

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