Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Von der Leyen versucht zu vermitteln
BRÜSSEL/BERLIN Die Situation in den europäischen Dörfern und Städten wird immer dramatischer. In Belgien und den Niederlanden kampieren die Flüchtlinge bereits auf den Straßen, auch aus Deutschland melden die Aufnahmezentren, am Ende der Kapazitäten angekommen zu sein. Die Staats- und Regierungschefs der EU spüren den Druck, der sich durch das Erdbeben im türkischsyrischen Grenzgebiet verstärken dürfte. Einige Politiker sehen Wahlen entgegen, fürchten, dass die Krise ihr Amt kosten könnte. Deshalb will die EU nicht bis zum üblichen Gipfel Ende März warten, hat für diesen Donnerstag und Freitag zum Sondertreffen nach Brüssel gerufen. Und was macht Kanzler Scholz, als er am Vortag im Bundestag eine Regierungserklärung zum Sondergipfel abgibt? Spricht erst mal lange nicht von Migration.
Das ist die Situation der EU in der von Krieg und Krise geprägten Zeit: Immer landen andere wichtige Themen auf dem Tisch. Mit seiner überraschenden Europa-reise nach London, Paris und schließlich zum Gipfel nach Brüssel unterstreicht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, worum sich die europäischen
Staatenlenker auch und vor allem kümmern müssen. Und so setzt auch Scholz im Bundestag schon einmal eindeutige Zeichen. Beim Gipfel werde die EU das Versprechen vom letzten Juni bekräftigen: „Die Ukraine gehört zu Europa, ihre Zukunft liegt in der EU.“
Selenskyj reicht das nicht. Er will Beitrittsverhandlungen bereits in diesem Jahr beginnen. Als die EUSpitzen vor einer Woche zum Gipfel nach Kiew reisten, hatte er gehofft, dass sie ihm eine entsprechende Konkretisierung mitgebracht hätten. Nun versucht er offenbar, sie direkt in Brüssel abzuholen. Doch die Stimmung hinter den Kulissen von Kommission, Rat und Parlament ist ein
Vorstoß
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versuchte schon, Bewegung in die festgefahrenen Positionen zu bringen.
Maßnahmen
Sie sprach von besserer Sicherung der Außengrenzen, intensivierten Rückführungen und Druckmitteln auf Drittstaaten. deutig: zu früh. So dürften denn die Beteuerungen zur politischen, humanitären, finanziellen und militärischen Unterstützung umso kräftiger ausfallen.
Scholz startet im Bundestag schon mal eine Festlegung: „Putin wird seine Ziele nicht erreichen – auf dem Schlachtfeld nicht und auch nicht durch einen Diktatfrieden.“Er werde nicht zulassen, dass ein Land sich mit Gewalt Teile eines anderen Landes einverleibe. „Deshalb unterstützen wir die Ukraine dabei, ihre Souveränität und ihre territoriale Integrität gegen Russlands Angriffskrieg zu verteidigen – so lange wie nötig“, lautet ein zentraler Satz der Regierungserklärung. SPD, Grüne und FDP stehen dazu, AFD und Linke nicht, und Unionsfraktionschef Friedrich Merz hält dem Kanzler Zögern vor und verweist darauf, dass die Ausbildung ukrainischer Soldaten an deutschen Panzern jetzt erst beginne – kurz vor dem befürchteten neuen russischen Großangriff.
Unter dem Stichwort „Spaltpotenzial“kommt der Kanzler schließlich zum eigentlichen Thema des Gipfels. Asylverfahren seien beschleunigt, Binnengrenzkontrollen verlängert und mit dem freiwilligen Solidaritätsmechanismus ein neuer Weg in der EU eingeschlagen worden. „Nach Jahren des Stillstands ist Fortschritt möglich in der europäischen Asylpolitik“, sagt Scholz. Aber einen Durchbruch beim Gipfel meint er damit nicht. Eine Reform des europäischen Asylsystems sei „noch in der laufenden europäischen Legislaturperiode möglich“. Das wäre also bis Mai 2024. Wie das den Städten im Februar 2023 helfen könnte? Scholz stellt sich hinter einen weiteren Migrationsgipfel seiner Innenministerin in der nächsten Woche. Dagegen sieht Merz Scholz selbst in der Verantwortung und verbindet die Aussage des Kanzlers, wer kein Bleiberecht habe, müsse Deutschland verlassen, mit der Praxis des rot-grün-rot-regierten Berlin, wo sämtliche Abschiebungen eingestellt worden seien.
Selbst an der Frage, wie Drittstaaten dazu gebracht werden könnten, in der EU abgelehnte Bürger wieder aufzunehmen, scheiden sich die Geister. Alle Instrumente einschließlich Visa-verfahren zu nutzen, will Deutschland nicht. Eine an dieser Stelle nur allgemeine Formulierung in der Gipfel-erklärung will eine Gruppe um Österreich verhindern – und droht damit, den kompletten Text zu blockieren. Am Ende könnte eine Vertagung stehen – mit entsprechendem Frust für alle Beteiligten.