Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Ende des Schweigens

Das Drama „Die Aussprache“dreht sich um weibliche Selbstbeha­uptung und Unabhängig­keit. Die Geschichte ist äußerst gegenwärti­g und doch zeitlos.

- VON KAI MIHM

(epd) „Die Aussprache“ist der erste Kinofilm der Regisseuri­n und Schauspiel­erin Sarah Polley, seit sie sich im Jahr 2013 aus dem Filmgeschä­ft zurückzog. Mit ihrem neuen Film, einem Drama über weibliche Selbstbeha­uptung und Unabhängig­keit, knüpft sie aber nahtlos an die subtile Meistersch­aft früherer Regiearbei­ten an. Der Film ist unaufgereg­t und doch emotional, von künstleris­cher Entschiede­nheit, aber einnehmend unprätenti­ös, herausrage­nd gespielt, aber kein eitles „Schauspiel­erkino“, thematisch äußerst gegenwärti­g und doch zeitlos.

Das von Polley verfasste Drehbuch basiert auf dem gleichnami­gen Roman von Miriam Toews, der wiederum von realen Ereignisse­n inspiriert war, die sich im Jahr 2010 zutrugen. Im Mittelpunk­t des Films stehen die Frauen und Mädchen einer mennonitis­chen Kolonie im ländlichen Kanada. Über Jahre hinweg wurden sie von Männern der Gemeinscha­ft vergewalti­gt – nachts, im Schlaf, betäubt mit Beruhigung­smitteln für Kühe.

Wenn die Frauen mit blauen Flecken und blutigen Nachthemde­n erwachten, erklärten die Männer (nicht nur die Täter) dies zum Werk von Geistern und Dämonen oder sie bezichtigt­en die Opfer der Einbildung und „weiblicher Wichtigtue­rei“. Misogynes, religiös verbrämtes Gaslightin­g. Erst als einer von ihnen erwischt wird, kommt die ganze Wahrheit ans Licht. Um die Täter vor dem Zorn der Frauen zu schützen, bringen die anderen Männer sie in die Stadt, wo die Polizei sie in Haft nimmt.

All dies bildet nur die Vorgeschic­hte und wird innerhalb weniger Minuten zusammenge­fasst, in prägnanten Bildern und durch eine weibliche Erzählerst­imme. Der Großteil des Films spielt sich allerdings in einer Scheune ab, wo die Frauen beraten, was sie tun sollen: vergeben und vergessen, wie es die Männer der Kolonie verlangen? Fortgehen? Oder bleiben und kämpfen? Viel Zeit für eine Entscheidu­ng haben sie nicht, denn am nächsten Tag werden die Männer mitsamt den Tätern aus der Stadt zurückkehr­en.

Aus dieser Situation entwickelt sich eine Diskussion um existenzie­lle Fragen, wie man sie in dieser Vielschich­tigkeit im Kino nur selten erlebt. Es geht um Ethik und Spirituali­tät, um Genderfrag­en, toxische Männlichke­it und die Fähigkeit, seinen Peiniger zu lieben. Es geht nicht um Rache oder Hass, sondern um eine Suche nach Antworten, um ein existenzie­lles Ringen mit den

Möglichkei­ten. Das Ensemble verleiht dem Geschriebe­nen eine vibrierend­e Lebendigke­it. Sei es die nachdenkli­che Ona (Rooney Mara), die hasserfüll­te Salome (Claire Foy) oder die zögerliche Mariche ( Jessie Buckley), die Persönlich­keiten der einzelnen Frauen entwickeln sich aus ihren teils widersprüc­hlichen Positionen.

Auch deshalb trifft der Originalti­tel „Women Talking“den Geist der Geschichte wesentlich besser. Denn es geht nicht um eine „Aussprache“, sondern um Frauen, die sich nicht mehr von einer patriarcha­lischen Ordnung zum Schweigen bringen lassen, die ihrem Leid, ihren Empfindung­en und Zielen eine Stimme geben– die reden und sich zuhören.

„Die Aussprache“,

USA 2022 – Regie: Sarah Polley; mit: Rooney Mara, Claire Foy, Jessie Buckley, Frances Mcdormand, Ben Whishaw; 104 Minuten

 ?? FOTO: MICHAEL GIBSON/ORION RELEASING LLC/UNIVERSAL/DPA ?? Michelle Mcleod (v.l.), Sheila Mccarthy, Liv Mcneil, Jessie Buckley, Claire Foy, Kate Hallett, Rooney Mara und Judith Ivey spielen die Frauen und Mädchen einer mennonitis­chen Kolonie.
FOTO: MICHAEL GIBSON/ORION RELEASING LLC/UNIVERSAL/DPA Michelle Mcleod (v.l.), Sheila Mccarthy, Liv Mcneil, Jessie Buckley, Claire Foy, Kate Hallett, Rooney Mara und Judith Ivey spielen die Frauen und Mädchen einer mennonitis­chen Kolonie.

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