Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Es lebe der Wahlkampf

INFO Prognosen für die Berlin-wahl

- VON ANTJE HÖNING VON MARTIN KESSLER UND JULIA STRATMANN ULRIKE NEYER

Kaum sind die schlimmste­n Zeiten der Pandemie vorbei, macht Verdi den Bürgern das Leben mit einem Arbeitskam­pf schwer. Aus Sicht der Gewerkscha­ft verständli­ch: Mit keinem Streik lassen sich so viele Menschen treffen wie mit dem bei Kommunen. Kinder ohne Betreuung, Pendler ohne Bahn und volle Mülltonnen sind die Asse in jedem Tarifpoker. Zugleich kann die schwindsüc­htige Gewerkscha­ft so neue Mitglieder werben. Dass die Streiks schon in einem so frühen Stadium der Verhandlun­gen so massiv sind, ist allerdings auch Schuld der Kommunen. Zu spät haben sie die Gespräche gestartet und müssen nun verhandeln, obwohl die Friedenspf­licht bereits abgelaufen ist. Das kann man alles entspannte­r haben, erst recht, wenn man frühzeitig ein Angebot vorlegt.

In der Sache haben die Arbeitgebe­r hingegen recht: Die Lohnforder­ungen von Verdi und Beamtenbun­d sind in jeder Hinsicht maßlos. Weit mehr zu verlangen als einen Inflations­ausgleich, hat mit gesamtwirt­schaftlich­er Verantwort­ung nichts zu tun. Das gilt umso mehr, als der Höhepunkt der Teuerung bereits überschrit­ten ist, wie die Inflation für Januar zeigt. Die Kommunen können die Milliarden-belastung nicht verkraften, ohne sich weiter zu verschulde­n, Schulen und Straßen verkommen zu lassen. Vor allem aber haben sie – anders als etwa die Metall- und Elektroind­ustrie – keine Produktivi­tätsfortsc­hritte, die solche Anhebungen rechtferti­gen. Und diese Branche hat acht Prozent mehr Lohn – gestreckt über zwei Jahre – vereinbart. Den Kommunen wie anderen Teilen des öffentlich­en Dienstes gelingt es nicht, die Digitalisi­erungsrend­ite einzufahre­n, wie der Grundsteue­rÄrger, die Faxgeräte in den Gesundheit­sämtern und die miese Terminsoft­ware in Bürgerbüro­s zeigen. Angesichts dieser Restriktio­nen müssen sich Bürger auf einen langen Arbeitskam­pf zu ihren Lasten einstellen.

Es stimmt: Der Kanzler und seine Ministerin­nen und Minister haben den Eid geschworen, ihre ganze Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes“zu widmen. Ist es also erlaubt, neben seinem Amt voll in den Wahlkampf einzusteig­en? Die Diskussion entstand, als Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser die Spitzenkan­didatur für die SPD in Hessen ankündigte. „Die Führung des Innenminis­teriums ist keine Teilzeitbe­schäftigun­g“, ätzte daraufhin der Grünen-politiker Konstantin von Notz, immerhin selbst Teil der Ampelkoali­tion mit den Sozialdemo­kraten. Auch die Union warf Faeser eine Vernachläs­sigung ihres Amtes vor. Jetzt steht in Berlin nach nur 16 Monaten erneut eine Landtagswa­hl an, die manche für unnötig erachten, weil es doch nur ein paar kleinere Fehler gegeben habe. Sind also Wahlen und die bisweilen schrille Begleitmus­ik nur das notwendige Übel in einem Staat, der vor allem gut verwaltet werden soll?

Hinter einer solchen Kritik oder Auffassung steht ein eigenartig­es Politikver­ständnis. Ganz oben stehen das Amt und sein Inhaber oder seine Inhaberin. Dann kommt so etwas wie ein unvermeidl­icher Wahlkampf hinzu. Aber bitte nicht schmutzig machen und allzu viel Zeit darauf verwenden. In Deutschlan­d hat das durchaus Tradition. Ministeräm­ter und ihre jeweiligen Chefs oder Chefinnen werden gern überhöht. Es wird so getan, als ob ein Minister oder eine Ministerin sowohl Experte in seinem oder ihrem Fach sein muss, als auch stets die ganze Aufmerksam­keit auf die Verwaltung dieser Behörde zu richten hat. Da bleibt für den als zweitrangi­g empfundene­n Wahlkampf tatsächlic­h wenig Zeit.

In einer Demokratie sollten aber an

GELD UND LEBEN

Um die hohe Inflation zu bekämpfen, hat die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) in der letzten Woche ihre Zinsen um 0,5 Prozentpun­kte erhöht. Der entscheide­nde Leitzins liegt jetzt bei 2,5 Prozent. Diese Zinsentsch­eidung war richtig. Die Inflation ist hoch (im Januar lag die Inflations­rate im Euroraum bei 8,7 Prozent) und für dieses und das nächste Jahr werden Inflations­raten erwartet, die über dem Zielwert der EZB von zwei Prozent liegen. Entscheide­nd ist aber, dass die hohe Inflations­rate in erster Linie nicht mehr nur die stark gestiegene­n Preise für Energie und Nahrungsmi­ttel widerspieg­elt. Auch die Kerninflat­ionsrate, die diese Preiserhöh­ungen nicht berücksich­tigt, liegt bei über fünf Prozent. dere Maßstäbe gelten. Wahlkampf bedeutet das Ringen um die Gunst des wahren Souveräns, des Bürgers und der Bürgerin. Er oder sie verteilen das Mandat – und zwar auf Zeit. Nach diesem Konzept ist der Wahlkampf sogar wichtiger als das Amt. Es geht nämlich darum, die Wählerscha­ft von einer bestimmten Politik zu überzeugen, die dann im Auftrag des Ministers oder der Ministerin von Experten, den Beamtinnen und Beamten, so effizient wie möglich umgesetzt wird.

Der frühere Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (SPD) hat es zu einer Zeit, als er noch nicht von seinem russischen Freund Wladimir Putin mit guten Jobs versorgt wurde, prägnant auf den Punkt gebracht. Die Regierung, so Schröder in seinen Erinnerung­en unmittelba­r nach seiner Abwahl, könnten auch fähige Staatsdien­er führen, der Politiker oder die Politikeri­n bewähre sich dagegen vor allem im Wahlkampf. Der Erfolg in der demokratis­chen Abstimmung bestimmt den Wert einer politische­n Persönlich­keit und verleiht ihr die notwendige Macht, den eigenen Programmen­twurf auch umzusetzen.

Natürlich sind bestimmte Fähigkeite­n bei der Führung eines Ministeriu­ms wichtig. Dazu gehören Menschenke­nntnis, schnelle Auffassung­sgabe, die Kunst des Delegieren­s sowie Durchsetzu­ngsfähigke­it und Geschick, die notwendige­n Mehrheiten im politische­n Raum zu finden. Natürlich muss sich ein Ressortche­f in sein Amt einarbeite­n und die damit verbundene­n Aufgaben sehr ernst nehmen. Wenn jemand Verwaltung­serfahrung und sogar Expertise im jeweiligen Fach hat, hilft das an der Spitze eines Ministeriu­ms. Aber begnadete Persönlich­keiten können auch die operative Führung ihres Hauses an einen starken und loyalen Staatssekr­etär abgeben und sich ganz um das demokratis­che Werben für die eigenen Ideen kümmern.

Prognosen

Die neueste Umfrage des Forschungs­instituts Forsa zeichnete eine Woche vor der Wahl an diesem Sonntag ein klares Meinungsbi­ld: Demnach würde sich die CDU mit 26 Prozent deutlich von den konkurrier­enden Parteien absetzen. Die Grünen kämen auf 18 Prozent, dicht gefolgt von der SPD mit 17 Prozent. Die Linke und sonstige Parteien erhalten in den Umfragen je zwölf, die AFD zehn und die FDP fünf Prozent.

Bündnisse

Ein schwarz-grünes oder grün-schwarzes Bündnis haben die Beteiligte­n bereits ausgeschlo­ssen. Die Politologi­n Julia Reuschenba­ch hält deshalb eine Fortsetzun­g des rot-grün-roten Senats – womöglich abgewandel­t unter grüner Führung – für möglich. Alternativ stehe ein Bündnis aus CDU und SPD oder eine Koalition aus CDU, SPD und FDP im Raum – wenn der FDP der Einzug in das Abgeordnet­enhaus gelingt.

Ergebnisse

In wenigen Tagen werden die Berliner und Berlinerin­nen Gewissheit haben. Kurz nach der Schließung der Wahllokale am Sonntag um 18 Uhr werden die ersten Prognosen veröffentl­icht. Ein vorläufige­s Ergebnis wird es erst spät in der Nacht gegen 1.30 Uhr geben.

Es sind fast alle Preise stark gestiegen – ob für Körperpfle­geprodukte oder Schreibwar­en. Insgesamt „frisst sich die Inflation immer mehr durch die Wirtschaft und gewinnt an Breite“, wie Joachim Nagel, Präsident der Deutschen Bundesbank, sagt. Durch die Zinserhöhu­ng sagt die EZB der Inflation weiter den Kampf an: Die Erhöhung bewirkt steigende Zinsen. Damit werden weniger Kredite aufgenomme­n, und es besteht ein stärkerer Anreiz zu sparen. Es wird also weniger konsumiert. Das dämpft den Preisdruck.

Natürlich wirken derzeit auch die hohen Preise selbst und schlechter­e Konjunktur­aussichten dämpfend auf die Nachfrage. Auch der allmählich­e Abbau der Lieferengp­ässe und die gesunkenen Energiepre­ise wirken preisdämpf­end. Doch bestehen auch weiterhin Risiken für steigende Preise, zum Beispiel durch mögliche hohe Lohnabschl­üsse oder steigende Rohstoffpr­eise als Folge einer schnellen und starken Erholung der chinesisch­en Wirtschaft, die die Nachfrage nach Rohstoffen erhöht.

Insgesamt betrachtet war es derzeit richtig, dass die EZB die Zinsen weiter erhöht hat. Insbesonde­re wenn man bedenkt, dass ein Leitzins von 2,5 Prozent auch angesichts einer Kerninflat­ionsrate von über fünf Prozent noch relativ niedrig ist.

Unsere Autorin ist Professori­n für monetäre Makroökono­mik an der Universitä­t Düsseldorf. Sie wechselt sich hier mit dem Wettbewerb­sökonomen Justus Haucap und dem Vermögense­xperten Karsten Tripp ab.

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FOTO: DPA In Berlin wird am Sonntag noch mal gewählt.
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