Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Selenskyjs Coup
Der ukrainische Präsident prägt den Eu-sondergipfel in Brüssel und nimmt erstmals am Tisch der Staats- und Regierungschefs Platz.
BRÜSSEL 350 Tage ist das nun her, da war er schon einmal in diesem Saal, in dem er nun leibhaftig Platz nimmt. Damals, am Abend des 24. Februar 2022, beeindruckte Wolodymyr Selenskyj, Präsident der gerade von Russland von drei Seiten angegriffenen Ukraine, mit seinem Mut und seiner Bereitschaft, für sein Land zu sterben. Er betrachtete die damalige Video-schalte aus dem Kiewer Bunker als fast so etwas wie sein Vermächtnis, schließlich wisse er nicht, ob er wenig später noch am Leben sei. Er überzeugte damit die 27 Staats- und Regierungschefs derart, dass sie umgehend die vorbereiteten Russland-sanktionen nachschärften und erste Waffenlieferungen auf den Weg brachten. Daran will Selenskyj an diesem Donnerstag anknüpfen.
Am Vortag war er bereits in London mit seinem Wunsch nach Kampfflugzeugen auf offene Ohren gestoßen. Auch das Gespräch am Vorabend in Paris mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz bewertet er in Brüssel als „positiv“. Das deutsch-französisch-ukrainische Treffen sei „wichtig und kraftvoll“gewesen. Mit Blick auf die russischen Zuhörer möchte er „nicht so viel öffentlich sagen“. Nur so viel: Man arbeite an „besseren Fähigkeiten“, und er nennt dabei „Panzer, Verteidigungssysteme“.
Freilich kommen wenig später Interview-äußerungen von ihm gegen Scholz auf den Markt. Er müsse diesen „zwingen, der Ukraine zu helfen und ihn ständig überzeugen, dass diese Hilfe nicht für uns ist, sondern für die Europäer“, sagte Selenskyj dem „Spiegel“und der französischen Zeitung „Le Figaro“.
Die Eu-spitzen nehmen ihn an diesem Brüsseler Sondergipfeltag bereits am Flughafen in Empfang. Eu-kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagt, sie sei dankbar, dass Selenskyj „ins Herz Europas“gekommen sei. Dann der aus Sicherheitsgründen bis zuletzt unbestätigte Auftritt im EUParlament. Längst ist der eigentliche Zeitplan für das Sondertreffen der Staats- und Regierungschefs an diesem Tag in den Hintergrund getreten. Statt den Gipfelteilnehmern nebenan mögliche Lösungswege zu einer gemeinsamen Migrationspolitik und zu den besten Antworten auf das Us-milliarden-subventionspaket zu erläutern, sind von der Leyen und Parlamentspräsidentin Roberta Metsola im Parlament.
Den Staats- und Regierungschefs wird Selenskyj am Mittag von ukrainischen Geheimdienstinformationen berichten, wonach Russland den Operationsplan bereits fertig habe, das Nachbarland Moldau genau so zu zerschlagen, wie es das mit der Ukraine vorgehabt habe. Selenskyjs zentrale Botschaft lautet am Nachmittag denn auch: Der Ukraine helfen heißt für die EU, sich selbst zu helfen, „damit Sie sich am Ende nicht selbst verteidigen müssen“.
Als er am Vormittag ans Rednerpult des Europäischen Parlaments tritt, ist er erst einmal emotional aus dem Tritt geraten. Die einleitenden Sätze Roberta Metsolas haben ihn sichtlich bewegt. Die Parlamentspräsidentin hat darauf verwiesen, dass jede Unterstützung Europas „verhältnismäßig“sein müsse, dass die Bedrohung für die Ukraine jetzt aber „existenziell“sei. Und damit war sie von sich aus schon zu der Aufforderung an die Eu-mitglieder gekommen, nun auch die Lieferung weitreichender Raketen und Jets zu erwägen.
Selenskyjs Rührung wird begleitet von Applaus, die Menschen im Saal erheben sich. Dann bringt er den Sinn des Kämpfens und Leidens seiner Landsleute auf das Bild, sie wollten alle „nach Hause“– nach Hause zu den „ukrainisch-europäischen Werten“, nach Hause zu dem „ukrainisch-europäischen Lebensstil“, den Russland durch seinen Krieg zu vernichten versuche.
Dass er nicht alle überzeugen wird, ist Selenskyj in Brüssel klar. Im Parlament schränkt er die Unterstützung der Ukraine auf „die große Mehrheit“ein. Als er von Michel zum üblichen Gipfel-familienfoto geleitet wird, applaudieren die Staats- und Regierungschefs. Bis auf einen: Ungarns Viktor Orbán. Und schon vorher hat Bulgariens Präsident Rumen Radew klar gemacht, mehr auf Vermittlung und weniger auf Waffenlieferungen zu setzen. Selenskyj sagt indes, er sei „nicht befugt, ohne Ergebnisse nach Hause zu kommen“. Deshalb steht er am Nachmittag für weitere bilaterale Begegnungen zur Verfügung. Er habe jedenfalls von einer „Reihe“von Staats- und Regierungschefs gehört, die bereit seien, das dringend Benötigte zu liefern.
Das erfordert weitere Abstimmungen. Der eigentliche Gipfel muss warten.