Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Wenn Engel singen
Das Ensemble Altera ist einer der wenigen Profichöre in den USA. Seine CD „The Lamb’s Journey“setzt neue Maßstäbe – sie ist einfach überwältigend.
DÜSSELDORF Es sei Gottes gütige Vorsehung („God’s merciful providence“) gewesen, dachte Roger Williams, dass er hier im Jahr 1636 eine neue Stadt und eine neue Gemeinde gründen durfte. Er nannte sie Providence. Im nahen Boston hatte sich der aus England ausgewanderte Priester unwohl gefühlt. Der Staat redete ihm dauernd rein. So ging das nicht. Die Kirche müsse unabhängig sein und ihren Kopf in die Luft halten dürfen. In Providence, etwas weiter südlich an der Ostküste Richtung New York gelegen, atmete Williams auf. Die Stadt machte er zum Zentrum des neuen Staates Rhode Island. Fast war Williams mehr Politiker als Theologe.
Ein bisschen ist es vielleicht auch Vorsehung, dass ausgerechnet Providence zum Sitz eines professionellen Kammerchors wurde, von denen es in den USA kaum welche gibt. Ein paar freie Geister kamen vor einigen Jahren zusammen, allesamt junge Leute mit Gesangsexamen, die Lust daran hatten, intelligente Programme zu entwerfen und musikalische Höchstleistungen zu vollbringen. Sie griffen hoch, wollten zum „pulsierenden Herz der Us-amerikanischen Chormusik“werden und nannten sich Ensemble Altera. Christopher Lowrey, selbst ein international renommierter Countertenor, wurde ihr künstlerischer Leiter. Um Vokalartistik ging es ihnen zwar auch, doch mehr um Spiritualität. Ein Konzert oder eine Platte sollte gerundet sein, geschliffen wie ein Diamant. Auch theologisch.
Wie das im Ernstfall klingt, zeigt die erste CD des Ensemble Altera. Sie heißt „The Lamb’s Journey“(„Die Reise des Lamms“) und ist nicht weniger als eine Sensation. Kein Plattendebüt der vergangenen Jahre in diesem Bereich verlief ähnlich spektakulär. Die CD klingt, als hätten sich 22 singende Engel ins Aufnahmestudio begeben. Das stand natürlich in einer Kirche, und zwar in St. Paul, der katholischen Kirche der Harvard University. Spuren hinterlassen, in der Gegenwart der Eliten sein – darunter tun sie es nicht beim Ensemble Altera.
Schon der Beginn haut einen weg und macht klar, dass das hier kein hochmütiges Unternehmen ist. Das Ensemble Altera vergibt auch Kompositionsaufträge, etwa an Joanna Marsh, die ein großartiges „Worthy is the lamb“für Doppelchor und Orgel
geschrieben hat. Das Werk klingt, als löckten Flammen an der Himmelspforte – wie geschaffen für die wahrhaft alle Grenzen überschreitende Offenbarung des Johannes, in deren fünftem Kapitel Legionen von Engeln jene Worte anstimmen. Bei Marsh singen sie im dauernden Wechsel von Dur und Moll. Die Orgel stiftet Unruhe. Dem Opferlamm Jesus Christus, dessen Weg bereits im Alten Testament vom Propheten Jesaja geweissagt wurde, wird kein roter Teppich ausgelegt. Die Dornen stehen schon steil. Auch das Ensemble Altera singt das, als sei die Passion noch längst nicht vorbei.
Auf der CD beginnt die Reise des Lamms also an ihrem Ende. Danach folgende 14 Rückblenden, die Kreuzwegstationen gleichen: Herbert Howells’ angstscheues „Salvator mundi“. Zuzanna Koziejs trostvolles „The Lamb“. Die Ängste der Karwoche birgt Pawel Lukazewskis düsteres „O vos omnes“. Die langsam übers Gesicht laufenden Tränen der Frauen hört man in Kenneth Leightons „Drop, drop, slow tears“. Ergreifend Antonio Lottis achtstimmiges „Crucifixus“mit seiner hochexpressiven Chromatik, mit einem sehr leisen, aber klangvollen tiefen C im Bass, wie von einem göttlichen Subwoofer gespendet. Über Ostern (Samuel Scheidts froh-bewegtes
„Surrexit Christus hodie“) führt die CD weiter zu Himmelfahrt (Orlando Gibbons’ „O clap your hands“) und Fronleichnam (Olivier Messiaens mystisches „O sacrum convivium“und Eriks Esenvalds‘ glaubenssüßes „O salutaris hostia“). Säulenhaft steht am Ende Samuel Barbers berühmtes, immer wieder und diesmal besonders berückendes „Agnus Dei“. Es ist wie eine Zusammenfassung: Hört her, dies alles ist geschehen!
Das Herzstück ist das – auch bei Youtube gelistete – Spiritual „Were you there“in einem neuen Arrangement von Chormitglied Michael
Garrepy. Danach ist man für den Rest des Tages geliefert. Es ist überwältigend.
Kein Vibrato verzerrt den Klang, doch sind die Stimmen nie dürr, sondern voll, warm. Spitzentöne kommen ohne jedes Klirren; bisweilen wehen sie schier unmerklich, wie Federwölkchen, in den Klang. Die Intonation ist perfekt bis auf die siebte Stelle hinterm Komma. Jeder Ton wirkt poliert, aber nie aalglatt. Stets erlebt der Hörer strömende Musikalität, tiefen Ausdruck, Dynamik, Leidenschaft. Produzent der CD war übrigens Gabriel Crouch. Der war früher für einige Jahre Bariton bei den King’s Singers und galt als Sachwalter des perfekten Klangs.
Sie alle haben keine Noten aus Papier mehr in Händen, sondern singen aus Tablets. Junge Leute von heute, die die Musikgeschichte nicht nur bereisen, sondern mitgestalten – und nebenbei eine bannende Geschichte erzählen, wie sich vor 2000 Jahren die Welt veränderte, als das Lamm Gottes zum Sterben und zu unserer Erlösung auf die Erde kam.
Am 9. Mai gibt das Ensemble Altera sein Debüt in New York. Wo? Selbstverständlich in der Carnegie Hall. Dort hat man das planetarische Niveau des Chores längst erkannt. Eigentlich müsste man hin.