Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Und die große Liebe betrügt man nicht“
Timo Boll steht mit 43 vor seinen siebten Olympischen Spielen. Der Tischtennisprofi von Borussia Düsseldorf ist hierzulande das Aushängeschild seiner Sportart. Er erzählt, was die olympischen Werte für ihn bedeuten und wie er sie lebt.
Es ist ein Ritual seit vielen Jahren. An jedem Heiligabend trainiert Timo Boll mit dem ehemaligen Tischtennis-profi Andreas Ball. „Er ist mein bester Kumpel. Wir spielen zwei, zweieinhalb Stunden, dann schmecken die Plätzchen noch besser.“2023 fiel die gemeinsame Einheit aus, Ball hatte eine Corona-erkrankung außer Gefecht gesetzt.
Und so arbeitete Boll an diesem Heiligabend eben allein an seiner Physis im Fitnessraum. „Der Traum von Paris lebt“, sagt der erfolgreichste Sportler der deutschen Tischtennis-geschichte. In Frankreich würde Boll sein siebtes olympisches Turnier bestreiten, er würde dann mit dem Sportschützen Ralf Schumann gleichziehen (eine Teilnahme für die DDR, sechs Teilnahmen für die Bundesrepublik), nur die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein und der Springreiter Ludger Beerbaum waren bei acht Spielen für Deutschland dabei.
Doch der Weg für Boll wird steinig. Anfang 2023 setzte ihn eine Schulterverletzung für fünf Monate außer Gefecht. „Ich bin zu 95 Prozent wieder fit. Die Verletzung muss ganz raus aus dem Kopf. Ich brauche noch Sicherheit, wieder mit letzter Konsequenz in die Bewegung zu gehen“, sagte Boll bei unserem Gespräch zum Jahreswechsel. Aber bereits die Tatsache, überhaupt für Bundestrainer Jörg Roßkopf wieder eine Option zu sein, sei ein großer Erfolg: „Daran war in den ersten Monaten 2023 nicht zu denken.“Als Ersatzspieler möchte er nicht mitfahren: „Dann würde ich die Chance, olympische Luft zu schnuppern, lieber einem jungen Spieler geben.“
Boll hat in seiner olympischen Karriere fast alles erlebt. Bittere Niederlagen. Und Triumphe wie Silbermedaillen mit der Mannschaft 2008 in Peking und 2021 in Tokio. Wenn Timo Boll hier exklusiv erklärt, was die olympischen Werte für ihn bedeuten, weiß er daher wie kaum ein anderer Athlet, wovon er spricht.
Teamgeist „Ich werde oft darauf angesprochen, warum ich bei Olympischen Spielen meine Medaillen allesamt in der Mannschaft gewonnen habe. Silber in Peking 2008 und in Tokio 2021, Bronze in London 2012 und in Rio de Janeiro 2016. Im Einzel war ich oft nah dran. Bei den Spielen in London zählte ich im Einzel zu den Titelanwärtern und bin dann gegen einen meiner Angstgegner, den Rumänen Adrian Crisan, ausgeschieden. Ich bin danach in ein richtiges Loch gefallen, habe verzweifelt nach meiner Form gesucht. Im Team lief es immer besser. Ich weiß nicht, ob ich in der Mannschaft noch mehr Druck spüre und mich dadurch nochmal steigere. Oder ob einfach der Wille, für sein Team zu kämpfen, noch ein paar Prozente in mir freisetzt.“
„Nach einem Spiel gehört es für mich dazu, dem Gegner beim Handschlag in die Augen zu schauen – egal, ob man gewonnen oder verloren hat. Zum Respekt gehört für mich auch, dass man über einen Kontrahenten nicht schlecht redet oder seine Selbstbeherrschung am Tisch verliert. Oft steht der Ehrgeiz, das unbedingte Gewinnen-wollen, über diesem Respekt. Etwa mit nicht regelgerechten Aufschlägen. Das war für mich nie der richtige Weg. Ich versuche, da mit gutem Beispiel voranzugehen. Deshalb werde ich auch in aller Regel am Tisch respektvoll behandelt. Ich glaube, dass ich in dieser Hinsicht schon für viele Spieler ein Vorbild bin.“
Völkerverständigung „Olympische Spiele sind für mich auch immer ein Fest der Völkerverständigung. 2016 in Rio durfte ich die deutsche Fahne tragen. Für einen Sportler kann es kaum eine größere Ehre geben. Ich bin stolz, dass ich damals die meisten Stimmen bekommen habe – sowohl in der öffentlichen Wahl als auch bei den Athletinnen und Athleten. Jeder meiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter hatte es genauso verdient. Ich war vor dem Einmarsch aufgeregter als vor einem sehr wichtigen Spiel. Dirk Nowitzki, der 2008 in Peking die Fahne trug, hat mir vorher noch gesagt, dass der Moment so schnell vorbeigeht und man ihn richtig aufsaugen muss. Seinen Rat habe ich beherzigt, diese Minuten haben mich sehr berührt. Daheim an der Pinnwand hängt ein Foto vom Einmarsch. Es erinnert mich an einen der emotionalsten Momente meiner Karriere.“
„Es gab in meiner Karriere natürlich Momente, in denen ich ans Aufhören gedacht habe. Vor allem während der Corona-pandemie hatte ich so starke Rückenprobleme, dass ich im Alltag kaum klarkam. Auch als jetzt bei meiner Schulterverletzung in der Reha über Wochen nichts voranging, kam ich ins Grübeln. Aber ich war immer diszipliniert und beharrlich, das zahlt sich im Alter aus. Ich gebe nicht so schnell auf. 2016 hatte ich in Rio im Spiel um Bronze gegen Südkorea so starke Rückenschmerzen, dass mir unser Teamarzt zehn Injektionen in den Nacken gesetzt hat. Danach ging es wieder – und wir haben gewonnen. Dabei bin ich niemand, der mit seiner Gesundheit spielt. Nach den Spielen stellte sich dann auch heraus, dass es ein Bandscheibenvorfall war, ich habe damals viel Glück gehabt.“
„Wenn ich eines Tages meine Karriere beenden werde, kann ich mit einem absolut reinen Gewissen auf meine Laufbahn zurückblicken. Ich habe mich gegenüber meinen Gegnern, meiner Sportart, immer korrekt und fair verhalten. Das ist für mich so viel wert wie ein großer Titel. In Interviews werde ich oft auf meinen Matchball im Achtelfinale der WM 2005 in Shanghai angesprochen. Ich führte gegen den Chinesen Liu Guozheng 13:12 im entscheidenden siebten Satz. Lius Ball rauschte aus der Sicht des Schiedsrichters hauchdünn über die Platte, er gab mir den Punkt. Ich habe aber gesehen, dass es ein Kantenball war, dies reklamiert. Liu bekam den Punkt, gewann das Spiel 15:13 und zog ins Viertelfinale ein. Bereut habe ich diese Entscheidung nie. Tischtennis ist meine große Liebe. Und die betrügt man nicht.“
Der Text ist zuerst im Magazin „Paris.24“erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der beiden Herausgeber Oliver Wurm und Carsten Oberhagemann können wir ihn hier nun auch unseren Lesern präsentieren.
(Anm. d. Red.: Inzwischen wurde Boll vom Deutschen Tischtennis-bund offiziell für den Paris-kader vorgeschlagen)