Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Missbrauch­te Religion

- VON MEY DUDIN

Wenn in einer deutschen Stadt mehr als 1000 Männer auf die Straße gehen und mit Wut und Hass in der Stimme ein Kalifat fordern, also einen islamische­n Gottesstaa­t, dann sollten Politiker aller Couleur vor allem eines bitte nicht mehr tun: wegschauen. Denn was am Samstag in Hamburg passiert ist, hat eine neue, äußerst beunruhige­nde Qualität: Ein erst vor wenigen Jahren zum Islam konvertier­ter Mann, in Deutschlan­d aufgewachs­en, hetzt in einer Art und Weise gegen Politiker und Journalist­en, wie man es ansonsten eher von rechtsextr­emen Aufmärsche­n kennt. Der Slogan der Demonstrat­ion, zu der die vor allem im Internet agierende Gruppe „Muslim Interaktiv“aufgerufen hatte, war: „So gehorche nicht den Lügnern“.

Politiker sollten jetzt nicht den Fehler machen und eine neue Debatte über Muslime beginnen. Denn islamische Kultur und Regeln spielten auf dieser Demo und in den Online-clips von „Muslim Interaktiv“keine wirkliche Rolle, trotz der häufigen religiösen Rufe und der plakativen Forderung, die Demokratie hierzuland­e durch ein Kalifat zu ersetzen. Religion wird hier vor allem als Ersatziden­tität missbrauch­t, als Seelentrös­ter bei Kränkungen, bei Zurückweis­ungen und gegen das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein.

Schaut man sich den Auftritt dieser relativ neuen Islamisten im Internet an, wird klar, dass man es mit einer anderen Kategorie als bisher zu tun hat: Sie sind jung, meist männlich, in Deutschlan­d geboren und sozialisie­rt. Sie stellen eine besondere Gefahr dar, auf die viele noch nicht vorbereite­t sind: weder in der Schule noch im Alltag oder in den Sicherheit­sbehörden. Nötig ist eine ehrliche Debatte, in der vor allem moderate Muslime das Wort ergreifen sollten. Wer differenzi­ert diskutiert, darf nicht als Rassist beschimpft werden. Den Rassismusv­orwurf hat auch „Muslim Interaktiv“schon entdeckt – und weiß ihn geschickt zu nutzen.

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