Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Emilia statt Bertha, Noah statt Heinrich

- VON MARTIN KESSLER

Der eigene Name begleitet jeden Menschen in der Regel ein Leben lang. Um so paradoxer ist es, dass gerade in unserer individual­isierten Welt fast alle ihren Namen von außen erhalten – in der Regel von den Eltern. Und so tragen die Kinder die Ideen, Eigenarten, Sehnsüchte und Schuldgefü­hle ihrer Erzeuger mit sich herum, wie die Gene, die sie erben. Die Gesellscha­ft für deutsche Sprache hat jetzt wieder ihre jährliche Rangliste der beliebtest­en Vornamen veröffentl­icht. Und wenig überrasche­nd stehen die drei weiblichen Namen Sophia, Emilia und Emma ganz vorne, bei den Jungen sind es Noah, Matteo und Leon.

Es ist schon erstaunlic­h, dass sich in unserem gefühlt auf Individual­ität und Selbstbest­immung begründete­n System die beliebten Namen kaum ändern, obwohl sich Eltern bei der Namenssuch­e solche Mühe geben. Tatsächlic­h spiegelt sich in den Vornamen wie sonst nur an wenigen anderen Stellen der augenblick­liche Zeitgeist wider. Als das Deutsche Reich im 19. Jahrhunder­t auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, dominierte­n bei den Jungen die patriotisc­hen Namen Karl, Wilhelm, Otto, Heinrich und Friedrich, bei den Mädchen Martha, Frieda, Bertha und Margarete. Das klingt nach Helden und Dynastien, nach Ruhm und Eroberung.

Man kann heute vom Vornamen mit einiger Sicherheit auf das Geburtsjah­r schließen. Nach der Studentenr­evolte in den 60er-jahren änderte sich schlagarti­g auch die Namensgebu­ng. Tanja, Anja und Kerstin sowie Oliver, Torsten und Dirk standen ganz oben – auch als Protest gegen die Großeltern­generation, die sich über solche Namen mokierte. Als sich die Namen später auch nach Schichten differenzi­erten, mussten sich plötzlich die Kevins und Chantals einer neuen Art von Diskrimini­erung stellen. Dass sich die Menschen auf eine kleine Zahl von Namen verständig­en, ist vielleicht auch ein Zeichen von Zusammenha­lt. Schön wäre es.

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