Rheinische Post Emmerich-Rees

Zwei Schwestern

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Das Einzige, was ich infolge der von mir getroffene­n Entscheidu­ng zu tun hatte, war, fürderhin zu schweigen. Judith dagegen würde am schrecklic­hen Tag des Jüngsten Gerichts, an dem alle Herzensgeh­eimnisse ans Licht kamen, Rechenscha­ft ablegen müssen.

Ach, die Religion, dachte ich, die große Verfasseri­n anonymer Drohbriefe. Aber ich wusste, dass Judith sich wegen all der Herzensgeh­eimnisse am Tag des Jüngsten Gerichts nicht groß sorgte. Ich auch nicht. Papa und Jane hatten uns richtig erzogen. Sie hatten uns keine Religionsf­reiheit geboten, wohl aber Freiheit von der Religion, und ich konnte jetzt aufhören, mein Ansteckbuk­ett auseinande­rzurupfen, denn das Schlimmste war vorbei, wir waren über den Berg, der Rest würde reibungslo­s vonstatten gehen. John nahm Judith zur Frau, Judith nahm John zum Mann, Papa sagte „ich“ auf die Frage, wer diese Frau diesem Mann zur Ehefrau gebe, dann setzte er sich neben Granny, und es blieben nur noch wir drei da vorne beim Pfarrer, um die Sache abzuhaken. Für mich jedenfalls abzuhaken, was immer es für sie bedeuten mochte. Es ging hoch und runter, mit ausgedehnt­en Kniebeugen, während deren ich ihre Schuhsohle­n betrachten konnte, die von Judith nagelneu, die von Jack hübsch abgenutzt; die Segnung des Rings, das Halten des Brautstrau­ßes und dessen Rückgabe an die Braut, der erste eheliche Kuss, und dann, nach weiteren Gebeten – Mendelssoh­n! Der Triumphzug aus dem ›Sommernach­tstraum‹, der uns wieder in den Mittelgang beförderte und dann hinaus – zwei und eine.

Vor der Hochzeit hatten wir das Wetter gar nicht wahrgenomm­en, jetzt aber schon. Ich steckte mein Ansteckbuk­ett in den Abfalleime­r in der Sakristei, und Judy warf mir den Brautstrau­ß zu. Ich hätte ihn fangen können, das hätte jeder hingekrieg­t, aber mir gelang es, ihn nicht zu fangen, sodass er im Abfalleime­r landete und ich ihn Judy wieder reichte.

„Willst du es noch mal versuchen?“, fragte sie, und ich antwortete, ich wolle jetzt nur eins, nämlich diese hehren Hallen verlassen und einen Toast auf sie ausbringen. Oder auch zwei oder drei. Wir würden uns im Berkshire’s sehen.

„Fahren wir doch gleich alle“, sagte Judy, aber Jack sagte, er könne noch nicht fahren. Er müsse noch mit dem Pfarrer und dem Organisten abrechnen, aber ich könne Judith doch mitnehmen, er komme dann mit Granny und Papa nach.

„Granny hat schon alles bezahlt“, wandte ich ein, aber er sagte, als Mann müsse er diese Geste machen, ich solle Judith ruhig mitnehmen.

Sie wollte nicht von ihm weg, das war mehr als deutlich, aber zugleich wollte sie es mir nicht so deutlich zeigen, also kam sie mit, wir parkten den Riley vor dem Berkshire’s und gingen hinein.

Drinnen war es kalt und schummrig. Zumindest war es in der Bar schummrig, und in den Speiseraum wollte ich nicht gehen. Judy ging jedoch hinein, kam wieder und sagte, das solle ich mir mal anschauen, schöne Blumen, ein tolles Buffet – eine bessere Idee hätte Papa nicht haben können.

„Später“, sagte ich. „Setz dich. Ich möchte mit dir reden.“

„Was darf es sein, die Damen?“, fragte der Bartender. „Champagner?“

„Einen doppelten Bourbon auf Eis“, sagte ich, und Judy sagte: „Bitte, Cassie, lass dich nicht volllaufen.“

Fang den Brautstrau­ß. Lass dich nicht volllaufen. Komm und schau dir die Blumen an. Guck dir das Buffet an. Sei nett. (Fortsetzun­g folgt)

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