Europas Wünsche an Deutschland
Wenn die Deutschen am Sonntag wählen, entscheiden sie auch über die Zukunft des Kontinents. Ein Franzose und ein Ukrainer erklären, welche Rolle Deutschland nach dem 24. September übernehmen muss.
Will die künftige Bundesregierung wirklich dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron entgegenkommen, so sollte sie das tun, was auch viele Deutsche erwarten: die schwarzen Zahlen des Haushaltsüberschusses nutzen, um Schulen zu sanieren, Brücken zu sichern, Straßen umzubauen. Bei alldem könnten französische Betriebe mitwirken, was der französischen Außenhandelsbilanz zugutekommen würde.
Es wird in Frankreich manches von Berlin erwartet. Zum Beispiel, dass gesagt wird, wie Deutschland von Europa profitiert hat. Als Robert Schuman am 9. Mai 1950 eine Kohle- und Stahlgemeinschaft vorschlug, war Konrad Adenauer sofort mit ihr einverstanden – weniger wegen des Europa-Gedankens, sondern weil dies für die Bundesrepublik einen gewaltigen Schritt hin zur Gleichberechtigung bedeutete.
Um 1951 unter den Vertrag eine deutsche Unterschrift zu setzen, musste ein Außenministerium gegründet werden. Bis dahin lag die volle äußere Souveränität in den Händen der drei westlichen Besatzungsmächte. Diese haben die Verantwortung für Berlin und die Wiedervereinigung behalten bis zum Zweiplus-vier-Vertrag von 1990. Die Europäische Gemeinschaft, dann Union, hat erlaubt, dass diese Unmündigkeit niemand stört.
Zudem wird erwartet, dass Deutschland nach außen einsatzbereit ist, wenn es gilt, den sogenannten IS zu bekämpfen und auch anderswo bedrohte Bevölkerungen zu schützen.
Wichtiger sind aber die Fort- schritte der EU. Der Vorschlag von Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble, es sollte ein Europa mit mehreren Geschwindigkeiten geben, hat sich mit dem Euro bewährt. Einige gehen voran, alle anderen dürfen sich dann beteiligen, wenn sie sich dafür entscheiden. Niemand hat den Euroraum bislang verlassen – stets stoßen neue Mitgliedstaaten hinzu. Nur dass nun ein gemeinsamer Finanzminister, eine gemeinsame politische Autorität, die die Euro-Zone einigermaßen regiert, erwartet wird. Alle sind dafür, aber keiner (darunter die Bundesrepublik) will es letztlich wirklich.
Nach außen müsste Deutschland Artikel 49 des Lissabonner Vertrags anwenden: Kein Staat, der die Menschenrechte verletzt, darf EU-Mitglied werden. Also kann Deutschland über alles mit der Türkei verhandeln, außer den EU-Beitritt. Und die BrexitVerhandlungen mit Großbritannien müssen so ablaufen, dass die britischen Wähler spüren, wie schmerzhaft der EU-Austritt sein wird – und ihn zurücknehmen.
Ganz Europa schaut auf Deutschland und seine Wahl. Auch die Ukraine ist Europa. Wir sind jetzt mehr Europa als je zuvor – sowohl im Sinne des Selbstgefühls als auch im Sinne des unermesslich hohen Preises, den wir für unsere europäische Wahl zahlen müssen.
Uns geht es nicht um die zu wählenden Namen (die sind allein den deutschen Wählern überlassen), sondern darum, ob Deutschland für Europa das bleibt, was es ist. Und hier sind aus meiner Sicht drei Dinge am wichtigsten.
Erstens: Deutschland ist die Tragsäule des europäischen Projekts, das in Gefahr ist wie nie zuvor. Es gibt politische Kräfte, die mit Erfolg an die menschlichen Schwächen appellieren: Egoismus, Intoleranz, Gleichgültigkeit – und darauf eine neue, dunklere Zukunft Europas bauen wollen. Man bringt Europäern nahe: Die europäische Einigkeit ist verbraucht, es geht auch ohne sie. In dieser Zeit steht Deutschland wie ein Fels in der Brandung: Ohne starkes, proeuropäisches Deutschland ist Europa dazu verdammt, die schlimmsten Erfahrungen des 20. Jahrhunderts aufs Neue zu machen.
Zweitens: Deutschland ist in vielerlei Hinsicht das Gewissen Europas. Der Feldzug des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine war ein moralischer Test für viele. Man reagierte auf verschiedene Weise – aber niemand nahm sich den Schmerz und die Ungerechtigkeit der Bestrafung der Ukraine für ihre Wahl so sehr zu Herzen wie Deutschland. Und niemand trägt so aufrichtig dazu bei, dass der Frieden und die Gerechtigkeit doch noch wiederhergestellt werden. Dafür danke ich von ganzem Herzen!
Drittens: Deutschland ist der Motor Europas. Gedeiht Deutschland, so geht es auch anderen Europäern besser. Dies braucht keine Erklärung. Die wirtschaftlichen Erfolge Deutschlands waren in den letzten Jahren ein Hoffnungsfaktor für uns alle. Ich hoffe, dass das auch so bleiben wird.
Seit den Anfängen des europäischen Projekts war eines klar: Ein vereintes Europa wird nicht nur gute Momente erleben. Die „Raison d’être“, also sozusagen die Daseinsberechtigung der Europäischen Union besteht darin, in schwierigen Zeiten (wie zum Beispiel jetzt) gut zu funktionieren. Diese Aufgabe nimmt sowohl wirtschaftliche Stärke als auch Überzeugung in Anspruch. Die Bundesrepublik Deutschland hat bislang beides gehabt.
Deutschland kann über
alles mit der Türkei verhandeln – außer den Beitritt zur Europäischen
Union Die wirtschaftlichen Erfolge Deutschlands waren in den letzten Jahren Hoffnungsfaktor
für uns alle