Ein Gedächtnis wie die offene See
„Das Leuchten der Erinnerung“mit Helen Mirren und Donald Sutherland zeigt das Schicksal einer Ehe, die von der Alzheimer-Demenz heimgesucht wird. Paolo Virzis Film hat Schwächen, aber die Hauptdarsteller brillieren.
Der alte Mann mit den schlohweißen Haaren lässt sich mitreißen von der Menge, die amerikanische Papierfähnchen schwenkt. Er freut sich über den Jubel, die optimistischen Gesichter und die Pappschilder, auf denen „Make America Great Again“verkündet wird.
Dass er sich auf einer TrumpWahlveranstaltung befindet, merkt John (Donald Sutherland) gar nicht. Der pensionierte Literaturprofessor hat sein Leben lang die Demokraten gewählt, aber jetzt hat er Alzheimer und all seine politischen Ansichten vergessen. Seine Frau Ella (Helen Mirren) hat alle Mühe, ihn aus der frenetischen Menge herauszuführen und wieder zurück in ihr gemeinsames Leben zu holen, so wie sie es Tag für Tag immer wieder tun muss.
Johns Gedächtnis ist wie die offene See. Ab und zu treiben Erinnerungen vorbei, nach denen er greift, um sie bald wieder fallen zu lassen: Die Kinder, seine Studenten, die Nachbarin kommen und verschwinden wieder aus seinem Kopf.
Ella und John sind durchgebrannt mit ihrem alten Wohnmobil aus den 70ern. Tochter und Sohn sind krank vor Sorge, aber die Mutter hat beschlossen, diese Reise an der Küste entlang nach Florida noch ein letztes Mal mit ihrem Mann zu unternehmen, so wie sie es früher immer mit den Kindern getan haben. Sie will noch einmal die Freiheit und Beweglichkeit spüren und in alten Erinnerungen schwelgen, bevor die Krankheit gänzlich die Kontrolle über das Eheleben übernimmt. Johns Gedächtnistrainingserfolge bleiben begrenzt, auch wenn Ella Abend für Abend auf dem Campingplatz den Diaprojektor anschließt und Bilder der Vergangenheit auf ein Bettlaken projiziert.
Nur manchmal hat John plötzliche, helle Momente, in denen kurz alles so ist, wie es früher einmal war, und der charmante Ehemann vergangener Tage für kurze Zeit er- strahlt. Das demente Vergessen ist so grausam, weil es scheinbar willkürlich auswählt, welche Erinnerungen bleiben und welche verschwinden. Ellas Jugendliebe bietet für John nach über fünfzig Jahren plötzlich wieder Grund zu hartnäckiger Eifersucht, während er die eigenen Kinder auf den Bildern nicht wiedererkennt.
Staunenden oder gelangweilten Kellnerinnen kann er seitenweise Hemingway, Joyce und Melville rezitieren, aber als er Ella aus dem Auge verliert, fallen ihm gegenüber den Passanten, die dem Suchenden helfen wollen, nicht einmal die Worte „meine Frau“ein.
Was bleibt von einer jahrzehntelangen Ehe übrig, wenn das Vergessen einsetzt? Diese Frage stellt der italienische Regisseur Paolo Virzi in seinem Road-Movie „Das Leuchten der Erinnerung“. Virzi gehört mit Filmen wie „Die süße Gier“und zuletzt „Die Überglücklichen“zu den talentiertesten Erzählern des italienischen Kinos mit einem genauen Blick für die gesellschaftlichen Zerklüftungen seines Landes. In seinem europäisch finanzierten USDebüt ist von dieser scharfen, analytischen Beobachtungsgabe kaum etwas zu spüren. Die Wahlkampfveranstaltung bleibt nur eine Episode, und ganz anders als in den Vor-
Italien/Frankreich 2017, 112 Minuten, Regie: Paolo Virzi, mit Helen Mirren, Donald Sutherland
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