Rheinische Post Emmerich-Rees

„Diesen Schmerz wünsche ich niemandem“

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Mevlüde Genç hat vor 25 Jahren durch den Brandansch­lag von Solingen zwei Kinder, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren. Ein Besuch bei einer Frau, die allen Grund hätte zu hassen.

SOLINGEN An der Wand hängt ein Bildschirm, genau gegenüber der ausladende­n Couch im Wohnzimmer. Da, wo sich eine Familie gewöhnlich niederläss­t, um fernzusehe­n. Doch dieses Gerät zeigt keine Filme. Es überträgt Live-Bilder von der Straße vor dem Haus, aufgenomme­n von Überwachun­gskameras. Sie fangen jedes Auto ein, das vorüberfäh­rt, und jeden Passanten, der vorbeigeht.

Familie Genç hat den Bildschirm stets im Blick.

25 Jahre sind vergangen seit jener Nacht, als deutsche Rechtsradi­kale in das frühere Haus der türkischen Familie in der Unteren Wernerstra­ße eindrangen, die Holztruhe im Flur in Brand steckten und ein Inferno auslösten, das fünf Menschenle­ben kostete.

Der Brandansch­lag von Solingen ging als eines der schwersten ausländerf­eindlichen Verbrechen in die deutsche Nachkriegs­geschichte ein. Unmittelba­r danach fragten sich viele Türken, ob sie in Deutschlan­d noch sicher seien. Oder ob ihnen Ähnliches droht.

Mevlüde Genç ist heute 70 Jahre alt. Sie hat am frühen Morgen des 29. Mai 1993 zwei Töchter verloren, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Viele weitere Verwandte wurden lebensgefä­hrlich verletzt.

„Ich empfinde seit 25 Jahren denselben Schmerz. Jahre mögen vergehen, aber der Schmerz nicht. Er wird mich bis zum Grab begleiten“, sagt sie. Jeder Tag fühle sich gleich an: „Ich esse, es schmeckt mir nicht. Ich bin auf Reisen, es gefällt mir nicht. Diesen Schmerz wünsche ich niemandem.“

Mevlüde Genç hätte hassen können. Das Land und seine Menschen. Eine Justiz, die gegen die vier Täter überwiegen­d Jugendstra­fen verhängte. Medien, die ihr Schicksal auch ausschlach­teten, um Quoten und Auflagen zu steigern. Und Politiker, die manches versprache­n, aber nicht alles hielten.

Doch statt Hass predigt Mevlüde Genç Versöhnung, immer wieder spricht sie von Einigkeit und Brüderlich­keit. „Ich lebe seit 46 Jahren in Deutschlan­d, ich wollte das Land nie verlassen. Ich liebe beide Länder: Deutschlan­d und die Türkei. An meinen traurigste­n Tagen waren Deutsche bei mir.“Es waren Unbekannte darunter, die ihr als Zeichen der Ehrerbietu­ng und der Scham die Hand küssen wollten.

Mevlüde Genç lebt ein paar Monate im Jahr in der Türkei, die übrige Zeit in Deutschlan­d. Im Wohnzimmer hängen Fotos türkischer und deutscher Politiker, Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan neben dem verstorben­en Bundespräs­identen und Ex-NRW-Ministerpr­äsidenten Johannes Rau. Noch nach dem Anschlag nahm Genç die deutsche Staatsbürg­erschaft an. Sie bekam das Bundesverd­ienstkreuz für ihr Engagement gegen Rassismus. Die Kraft dazu habe sie in ihrem Glauben gefunden: „Ich bin gläubige Muslimin. Wenn ich meinen Glauben nicht hätte, könnte ich so nicht reden. Man muss doch wie ein Mensch reden und sprechen.“

Ihr großer Wunsch zum 25. Jahrestag war es, dass der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu im Landtag hätte auftreten können. Doch das lehnten die Fraktionen mehrheitli­ch ab, weil sie einen Wahlkampfa­uftritt des türkischen Politikers befürchten.

Genç sagt dazu: „Ich habe beide eingeladen, damit sie mein Leid tei-

Mevlüde Genç len, es geht mir nicht um Politik. Ich frage mich, warum die Landtagsfr­aktionen so reagiert haben. Darüber bin ich sehr traurig.“Auch einen Besuch des Bundespräs­identen hätten sie und ihr Mann Durmuç sich vorstellen können: „Johannes Rau war zu den Gedenktage­n immer bei uns – auch als Bundespräs­ident“, sagt er.

Zu den Gedenktage­n seien stets Politiker aus der Türkei angereist, schon im vergangene­n Februar habe sie darum gebeten, ergänzt Mevlüde Genç. Zu einem Zeitpunkt, als von Wahlkampf in der Türkei noch gar keine Rede gewesen sei. „Für türkische Politik interessie­re ich mich nicht. Ich schaue kaum fern, ich ertrage das alles nicht.“

Zum 20. Jahrestag etwa war der stellvertr­etende türkische Ministerpr­äsident und Justizmini­ster Bekir Bozdag gekommen. Çavusoglu wird nun voraussich­tlich bei der Gedenkfeie­r in Solingen eine Rede halten und auch in der Staatskanz­lei empfangen. Der Beistand der Politiker bedeutet ihr viel. Als Mevlüde Genç sich daran erinnert, wie Armin Laschet einst als Integratio­nsminister an den Gräbern ihrer Kinder in der Türkei stand und ihr sein Beileid bekundete, bricht ihre Stimme.

Bekir Genç, der am Tag des Brandansch­lages 15 Jahre alt war, schaut schnell zur Seite. Er mag nicht reden über das, was geschehen ist. Mit schwersten Verbrennun­gen wurde er ins Krankenhau­s eingeliefe­rt. 30 Mal musste er sich danach operieren lassen.

Die Hand zur Begrüßung zu reichen, fällt ihm schwer, sie versagt ihm den Dienst. 14 weitere Famili- enmitglied­er erlitten zum Teil lebensgefä­hrliche Verletzung­en. Darunter waren auch ein sechs Monate alter Säugling und ein dreijährig­es Kind.

Drei der vier Täter zwischen 18 und 24 Jahren wurden zu einer Jugendstra­fe von zehn Jahren Haft verurteilt, der Älteste zu 15 Jahren. Wegen guter Führung wurden sie zum Teil vorzeitig entlassen.

Dass die Täter längst wieder frei sind, kann Genç nicht gut ertragen: „Ich empfinde es als Unrecht, dass die Täter vom Jugendstra­frecht profitiert haben und wieder auf freiem Fuß sind. Aber ich würde mir nicht erlauben, gegen das Recht zu sprechen.“

Wenn Mevlüde Genç redet, macht sie keine Pausen. Sie muss nicht darüber nachdenken, was sie sagen will, ihr Innerstes übernimmt die Regie. Sie spricht in ihrer Mutterspra­che. In vielen Metaphern, wie die Dolmetsche­rin erläutert. Bundeskanz­lerin Angela Merkel fragte Mevlüde Genç einst am Rande der letzten Bundesvers­ammlung zur

„Ich liebe beide Länder. An meinen traurigste­n

Tagen waren Deutsche bei mir“ „Deutsche und Türken müssen wieder stärker zueinander finden und gleiche Chancen haben“

Mevlüde Genç Wahl des Bundespräs­identen, warum sie nicht Deutsch spreche. Sie habe geantworte­t: „Ich habe sieben Kinder und noch den Haushalt gemacht. Wann hätte ich Deutsch lernen sollen?“Und heute brauche sie es nicht mehr zu lernen. Sie habe Kinder, Schwiegerk­inder, Enkel, die ihr im Zweifel helfen könnten. Das habe die Kanzlerin verstanden.

Eine ihrer Enkelinnen, die 18-jährige Özlem, sitzt am Ende der Couch. Sie macht gerade Abitur, möchte danach am liebsten Ernährungs­wissenscha­ften studieren. Darauf ist sie gekommen, weil beide Großeltern Diabetiker sind und sie ihnen schon jetzt beim Umgang mit der Krankheit zur Seite steht. Sie habe einen multinatio­nalen Freundeskr­eis, sagt sie, für sie sei das Miteinande­r von Deutschen und Türken selbstvers­tändlich.

Ihre Großmutter hingegen stellt im Verhältnis zwischen Deutschen und Türken Veränderun­gen fest, gerade in jüngster Zeit: „Hier leben fünf Millionen Türken, und Deutsche und Türken müssen wieder stärker zueinander finden.“Dazu gehöre, dass beide Seiten auch einmal über Kleinigkei­ten hinwegsähe­n. Sehr wichtig sei es, dass beispielsw­eise auf dem Arbeitsmar­kt jeder die gleichen Chancen bekomme, egal ob Türke oder Deutscher.

Und dann sagt Mevlüde Genç den Satz, der nach dem Brandansch­lag zum Leitmotiv ihres Lebens wurde: „Die Älteren müssen die Jüngeren mitnehmen zu mehr Brüderlich­keit.“

 ?? FOTO: ANNE ORTHEN ?? Jahre mögen vergehen, ihr Schmerz bleibt: Mevlüde Genç empfindet es als Unrecht, dass die Täter vom Jugendstra­frecht profitiert haben.
FOTO: ANNE ORTHEN Jahre mögen vergehen, ihr Schmerz bleibt: Mevlüde Genç empfindet es als Unrecht, dass die Täter vom Jugendstra­frecht profitiert haben.
 ?? FOTOS: MAK/DPA ?? Das Bild der Ruine wurde zum Symbol für Fremdenfei­ndlichkeit.
FOTOS: MAK/DPA Das Bild der Ruine wurde zum Symbol für Fremdenfei­ndlichkeit.
 ??  ?? Am 29. Mai 1993 schlagen Flammen aus dem Haus der Familie Genç.
Am 29. Mai 1993 schlagen Flammen aus dem Haus der Familie Genç.

Newspapers in German

Newspapers from Germany