Rheinische Post Emmerich-Rees

Deutschlan­ds erster Geldautoma­t

- VON JÖRN BENDER UND LENA MÜSSIGMANN

Bankkunden haben sich daran gewöhnt, an jeder Straßeneck­e Bargeld aus Automaten ziehen zu können. Doch so lange gibt es die Technik noch gar nicht. In Deutschlan­d begann der Siegeszug im schwäbisch­en Tübingen.

TÜBINGEN (dpa) Der Einstieg ins Computerze­italter war mühsam: Spezialsch­lüssel, Plastikaus­weis, Lochkarte – wer an Deutschlan­ds erstem Geldautoma­ten im Zentrum von Tübingen Geld abheben wollte, brauchte eine Menge Zubehör und etwas Geduld. Am 27. Mai 1968 nahm die dortige Kreisspark­asse das Monstrum von Maschine in Betrieb – mit gebotener Vorsicht: Höchstens 1000 eigens registrier­ten Kunden wurde der Zugang zu dem mit einer dicken Metalltür gesicherte­n „Geldausgab­e“-Schacht in der Außenwand der Bank gewährt.

Zehn Lochkarten bekamen diese Kunden auf Vorrat, für jede Karte spuckte der Automat einen 100Mark-Schein aus. Auf einen Rutsch konnten maximal 400 D-Mark abgehoben werden. Nutzen durfte die neue Technik nur, wen die Bank für f lüssig hielt. Schließlic­h sollte das Konto auch bei Abhebung der 1000 Mark nicht ins Minus rutschen, erinnert sich Hartmut Krumm (71), damals Mitarbeite­r der Kreisspark­asse.

Immerhin waren Bankkunden nun nicht mehr auf Schalter-Öffnungsze­iten angewiesen, um an Bargeld zu kommen. Die Tresorbauf­irma Ostertag aus Aalen, die den Tübinger „Geld-Ausgabe-Automaten“gemeinsam mit AEG-Telefunken gebaut hatte, bewarb in einer Broschüre dessen Vorzüge: „Er verhindert, dass berufstäti­ge Kunden aus Zeitmangel größere Beträge auf Vorrat abheben müssen.“

Dass er beim Geldabhebe­n auf die Öffnungsze­iten seiner Bank angewiesen war, war ein paar Jahre zuvor dem Schotten John Shepherd-Barron (1925-2010) zum Verhängnis geworden. An einem Samstag im Frühjahr 1965 ging ihm das Bargeld aus, weil er wenige Minuten zu spät an der Bankfilial­e ankam und vor verschloss­enen Türen stand.

In der Badewanne – so schilderte er es 42 Jahre später dem britischen Sender BBC – kam Shepherd-Barron ins Grübeln: Warum gibt es eigentlich Automaten, aus denen man Schokorieg­el ziehen kann, aber kein Gerät, das Bargeld herausgibt? Kurzerhand erdachte der Manager einer Firma, die auch Banknoten druckte, einen Automaten, der Schecks prüfen und entwerten konnte und im Gegenzug Bargeld ausspuckte.

Er stellte seine Idee der Großbank Barclays vor – und die griff sofort zu. Der Schotte entwickelt­e sechs ATMBankaut­omaten (Automated Teller Machine), den ersten davon nahm Barclays am 27. Juni 1967 in der Filiale in Enfield nördlich von London in Betrieb. Mehr als zehn Pfund gab der Automat auf einmal nicht heraus. „Aber das reichte damals für ein wildes Wochenende“, erklärte Erfinder Shepherd-Barron.

Schon zuvor hatte es erfolglose Versuche mit Bankautoma­ten in anderen Ländern gegeben. Und auch nach Shepherd-Barrons wegweisend­er Erfindung dauerte es Jahre, ehe Geldautoma­ten die Massen überzeugte­n.

In Deutschlan­d blieben viele Tübinger zunächst ebenfalls skeptisch. Zwar zog die Kreisspark­asse nach zehn Monaten eine positive Zwischenbi­lanz. Die Sicherheit­skontrolle­n erschienen zuverlässi­g, anfänglich­e technische Störungen seien behoben, und es sei immer der richtige Geldbetrag ausgezahlt worden, hieß es in einem Erfahrungs­bericht. Doch gerade mal 125 Kunden hatten sich bis dato für die Automatenn­utzung angemeldet.

„Die Zeit war einfach nicht reif für diese Idee“, sagt Werner Staiger (74), früherer Chef von Hartmut Krumm in der Abteilung für Technik und Organisati­on bei der Kreisspark­asse Tübingen. Doch auch wenn die Kunden nicht Schlange standen – Aufsehen erregte der Automat. „Das war in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d interessan­t für alle: Die Banker sind in Strömen zu uns gekommen, um sich das anzusehen“, erinnert sich Staiger. „Technisch waren wir immer vorne mit dabei.“

Anfang der 1980er Jahre wurden in Tübingen Automaten installier­t, die verschiede­ne Stückelung­en auszahlen konnten. Der Durchbruch der Geldautoma­ten in Deutschlan­d kam, als die Automaten wie schon in Spanien und Schweden im Foyer sowie im Außenberei­ch der Banken installier­t wurden und damit rund um die Uhr nutzbar waren. Im Grunde sei der Geldautoma­t die „einzige nützliche Innovation“, die die Finanzbran­che über Jahrzehnte zustande gebracht habe, befand 2009 – kurz nach dem Ausbruch der Finanzkris­e – der Ex-Chef der USNotenban­k-Fed, Paul Volcker.

Zwar wird das Netz löchriger, doch noch können Verbrauche­r allein in Deutschlan­d an gut 58.000 Geldautoma­ten (Stand Ende 2017) rund um die Uhr in Sekundensc­hnelle Bargeld ziehen. Die Automaten verlieren jedoch an Bedeutung, weil der Online-Handel blüht und zudem immer mehr Geschäfte das Geldabhebe­n an der Ladenkasse ermögliche­n. Auch Anschläge treiben die Betriebsko­sten für Banken und Sparkassen. Die deutsche Kreditwirt­schaft geht daher davon aus, dass die Zahl der Geldautoma­ten in den kommenden Jahren weiterhin leicht rückläufig sein wird.

Deutschlan­ds Pionierger­ät in Tübingen verschwand übrigens wenige Jahre nach seiner Inbetriebn­ahme bei einem Umbau wieder, wie Zeitzeuge Krumm schildert. Er habe die Maschine ohnehin nicht genutzt, erinnert sich der Rentner: „Als Bankkaufma­nn brauchte man das nicht.“Schließlic­h sei er täglich zu den Öffnungsze­iten in der Bank gewesen.

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FOTO: KREISSPARK­ASSE TÜBINGEN Der erste Geldautoma­t sah eher wie ein Tresor aus.

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