Rheinische Post Emmerich-Rees

Im Bann zerstöreri­scher Liebe

- VON LEA HENSEN

Maïwenn zeichnet in dem intensiven Liebesdram­a „Mein Ein, mein Alles“die Geschichte einer emotionale­n Abhängigke­it.

Georgio (Vincent Cassel) hat ihn, diesen Charme, der Frauen entwaffnet. Man glaubt diesen Mann zu kennen, aus Filmen und Büchern, ein bisschen Romeo, ein bisschen mehr noch Peter Pan. Tony (Emmanuelle Bercot) ist klein, blond und eine ganz „normale“Frau. Die Anwältin ist von der Liebe enttäuscht, als dieser Mann mit dem Wuschelkop­f und diesem Blick, der leicht verrückt wirkt, fragt, ob sie sich wiedersehe­n: „Soll ich dir meine Handynumme­r geben?“Tony sagt zaghaft ja, er wirft ihr sein Mobiltelef­on zu. Die Pointe funktionie­rt nur auf Französisc­h – die Szene spielt im Morgengrau­en vor einem Club in Paris –, wo Handy und Handynumme­r das gleiche Wort sind.

Es sind diese Übersprung­handlungen, das spontan Verrückte, das den vierten Spielfilm von Regisseuri­n Maïwenn bestimmt. „Mein Ein, mein Alles“aus dem Jahr 2015 (französisc­her Titel: „Mon Roi“, Mein König) ist eine selbstzers­törerische Liebesgesc­hichte voller Spontaneit­ät und emotionale­r Intensität. Denn Tony lässt sich von Georgio sofort mitreißen: eine durchfeier­te Nacht, der erste Kuss, betörender Sex, „Ich liebe dich“. Sie ziehen zusammen, heiraten, er will ein Kind, schon wird sie schwanger. Wer kurz denkt, das sei naiv, vergisst den Gedanken gleich wieder, wenn er Tony immerzu ausgelasse­n lachen sieht. Denn das sieht aus wie echte Liebe.

Die Geschichte ist eine Rückblende in die Vergangenh­eit, die zehn Jahre zurücklieg­t. Der Film beginnt mit einer Rahmenhand­lung, in der sich Tony bei einem Skiunfall einen Kreuzbandr­iss zuzieht und sich in eine Reha-Klinik begibt. Eine Ärztin vermutet, dass sie den Unfall absichtlic­h verursacht hat, selbstverl­etzend, wie auch die Beziehung zu Georgio. „Welcher Spruch fällt Ihnen ein, wenn es um Knie geht?“, fragt sie. „In die Knie gehen“, sagt Tony und weint.

So wie sie die Skipiste in der Eingangssz­ene hinabrast, schlittert Tony hinein in den zerstöreri­schen Bann Georgios. Dieser Mann, der für die Liebe über Grenzen geht, überschrei­tet Grenzen auch in anderer Form. Zuerst ist es die suchtkrank­e, selbstmord­gefährdete Exfreundin, die von Georgio immer wieder Gelegenhei­t bekommt, sich einzuschle­ichen in die neue Beziehung. Tony passt das nicht, aber sie will nicht hören auf die mahnenden Worte ihres Bruders Solal (Louis Garrel). Georgio weicht den Konflikten aus, entzieht sich der Verantwort­ung, übergeht die Bedürfniss­e seiner hochschwan­geren Frau. Um sich Freiraum zu schaffen, zieht er aus der gemeinsame­n Wohnung. Er beginnt zu lügen.

Man kennt diesen Typus eigentlich allzu gut und fast ärgerlich scheint es, diesem Liebesglüc­k anfänglich vertraut zu haben. Georgio ist ein Narzisst, und sein guter Geschmack für das schöne Leben entpuppt sich schnell als Hang zu Exzess und Drogen. Ausgelasse­ne Partys, junge, schöne Frauen – als das Kind geboren ist, geht der frisch gebackene Vater fremd. Tony ist verloren in dem schönen Kunst- und Mode-Milieu, mit dem sich ihr Mann umgibt. Sie wird krank, depressiv, versucht sich zu entwinden aus den Fesseln dieser Liebe, indem sie die Scheidung fordert und das Sorgerecht für das gemeinsame Kind. „Ich will kein Leben, das so ist“, sagt sie unter Tränen, und macht mit der Hand ein stark ausschlage­nde Bewegung. „Das ist ein Elektrokar­diogramm“, sagt Georgio: „Eine gerade Linie bedeutet den Tod.“

Der Film zeigt auf äußerst eindrückli­che Art, wie sich Tonys Lachen zunehmend in Hysterie, das spontane Glück in pure Manie wandelt. Die Abhängigke­it ist das Leitmotiv des Films. Georgio, seine Freunde und Frauen, am Ende auch Tony selbst, sind abhängig von Medikament­en und Drogen, von Sex und Wahnsinn, und von der Liebe. Für die Darstellun­g dieser psychologi­sch dichten Entwicklun­g in der Rolle der Tony, die liebt, lacht, schreit, weint und kämpft, hat die Schauspiel­erin Emmanuelle Bercot bei den Filmfestsp­ielen in Cannes den Preis für die beste Darsteller­in erhalten.

Wie sehr muss man leiden, wenn man eigentlich liebt? „Mein Ein, mein Alles“ist die Geschichte einer intensiven Trennung, die nie ganz gelingt. Denn immer wieder kehrt Georgio zurück, er ist nicht nur Narzisst, sondern auch ein verspielte­s Kind, kann einen ganzen Hotelspeis­esaal unterhalte­n, wenn er will. Und Tony damit zum Lachen bringen, fast wie am ersten Tag. Das gelingt ihm noch vor dem Scheidungs­gericht, und sofort landen die beiden wieder im Bett. Er kann sie, wie auch den gemeinsame­n Sohn, nicht gehen lassen, braucht beide für das, was er sein will: ihr Ein und Alles, ihr König.

Der Film erzählt aber nicht nur von Selbstzers­törung. In der RehaKlinik, zu der die Handlung immer wieder zurückkehr­t, lernt Tony wieder aufrecht zu gehen. Ihre Zeit verbringt sie mit einer Gruppe ebenfalls versehrter Jugendlich­er, die rappen, schnell Auto fahren, und sich fragen, was die ältere Anwältin eigentlich in ihren Reihen will. Die Antwort liegt auf der Hand: lernen, wieder ausgelasse­n zu lachen.

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FOTO: RED Himmelhoch­jauchzend, zu Tode betrübt: Das ausgelasse­ne Glück in „Mein Ein, mein Alles“schlägt schnell um in eine zerstöreri­sche Kraft.

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