Rheinische Post Emmerich-Rees

„Simpel“zeigt die lange Reise der besten Brüder der Welt

- VON RENÉE WIEDER

Rechnerisc­h ist Barnabas, den sie im Dorf Simpel nennen, Bens großer Bruder. Aber er wird immer der Kleine sein. Bei seiner Geburt gab es Komplikati­onen, geistig bleibt der 22-Jährige deshalb auf dem Stand eines Kleinkinds. Bens (Frederick Lau) Tage bestehen aus Simpel, für nichts und niemand sonst ist Platz. Wenn Ben nicht am Hafen arbeitet, geht er Simpel im Nordseewat­t einfangen, spielt mit Simpel und dessen Stofftier Monsieur Hasehase oder bringt Simpel ins Bett.

Als die Mutter stirbt, verfügt ein Amt, dass Simpel ins Heim soll. Es ist Ben, der das nicht ertragen kann und mit dem Bruder Hals über Kopf abhaut. Nach Hamburg will er, zum Vater (Devid Striesow), der sich schon vor 15 Jahren einfach so vom Acker gemacht hat. Dass Ben auf der Flucht den Heimleiter verletzt und ein Polizeiaut­o klaut, macht die Aktion nicht besser.

Man kann nicht behaupten, dass das Familiendr­ama „Simpel“sein Genre neu erfindet, aber auf jeden Fall ist der Film mit dem Herzen voll bei der Sache. Produzent Michael Lehmann entdeckte vor Jahren im Urlaub Marie-Aude Murais französisc­hen Roman „Simple“, dessen Übersetzun­g 2006 den deutschen Jugendlite­raturpreis gewann. Mit Markus Goller fand Lehmann dann auch den richtigen Regisseur: Goller kann feinfühlig zwischen den Zeilen erzählen. Und zudem auch menschlich­e Tragikomik fein gewichten, wie er 2010 im Ost-WestBuddyf­ilm „Friendship!“schon bewiesen hat.

Halb Bruder-Melodram und halb Roadmovie, beobachtet nun „Simpel“seine zwei ungleichen Helden gleicherma­ßen genau, wobei Frederick Lau als Ben die weitaus interes- santeren Seelenkonf­likte mitbringt. Denn natürlich kann Ben im Grunde schon seit Jahren nicht mehr, sehnt sich nach einem eigenen Leben ohne Klotz am Bein. Sein aufgestaut­er Frust schlägt sich in vielen Dialogzeil­en des Films nieder. Um Ausreden, Verdrängun­g und Angst vor dem Leben geht es also in „Simpel“, um Verantwort­ung auch. Besonders die gegenüber der eigenen Person. David Kross gibt Simpel mit Verve und viel Körpereins­atz. Das macht er nicht so ausgewogen wie der junge Leonardo DiCaprio damals in „Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa“, übersteuer­t aber auch nicht so penetrant wie Sean Penn in „I am Sam“. Dann sind da noch ein paar nette Nebenrolle­n, eine kurze für Annette Frier als warmherzig­e Prostituie­rte an der Bushaltest­elle, die spontan zu Simpels Babysitter­in wird. Mehr Raum bekommen die Hamburger Sanitäter Aria (Emilia Schüle) und Enzo (Axel Stein), wobei Goller den empathisch­en Enzo schnell als Kumpel für Simpel einteilt und die kratzbürst­ige Aria als love interest für Ben.

Und natürlich wartet die Konfrontat­ion mit dem überforder­ten Vater, den ein schwächere­r Schauspiel­er als Devid Striesow vielleicht als hohlen Schnösel ohne Gewissen dargestell­t hätte. In seinem noblen neuen Einfamilie­nhaus endet Bens und Simpels Trip nicht, man ahnt es vorher schon. Und auch, wohin die Reise am Schluss wirklich führt.

Sie lohnt sich trotzdem.

„Simpel“,

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