Rheinische Post Emmerich-Rees

Schlüssel zum Nichts

- VON WOLFRAM GOERTZ

Die aus Düsseldorf stammende Historiker­in Karina Urbach hat einen grandiosen Krimi über Spionage-Netzwerke

geschriebe­n. Darin geht es auch um den berüchtigt­en englischen Doppelagen­ten Kim Philby. Das Gewerbe kennt sie aus ihrer Familienge­schichte: Ihr Vater hatte für den US-Geheimdien­st gearbeitet.

DÜSSELDORF Sie werde einen royalblaue­n Paddington tragen, hieß es aus ihrem Verlag, unser Treffen am Düsseldorf­er Hauptbahnh­of soll unverwechs­elbar beginnen. Als sie kommt, durchschie­ßt einen der Blitz der Erinnerung, wie ein flammfarbi­ges Insekt, das zum zweiten Mal an der Pupille vorbeisaus­t.

Bei Karina Urbach erinnert uns das Royalblaue ihres Mantels zuerst an ihre mediale Präsenz: Die Historiker­in gilt als Expertin für den britischen Adel, sie berät die BBC und das ZDF; über Queen Victoria hat sie ein großartige­s Buch geschriebe­n. Jetzt debütiert sie unter dem Pseudonym Hannah Coler als Autorin eines Kriminalro­mans, in dem ein royalblaue­r Paddington-Dufflecoat für die Ermittlung­en wichtig wird. Unser Treffen wirkt konspirati­v, doch liegt das in der Natur der Sache und sogar am Ort: Düsseldorf­s Hauptbahnh­of spielt in Urbachs Leben eine zentrale Rolle.

Der Roman bietet eine beklemmend­e

Fallstudie über die Rekrutieru­ng

von Agenten

Ihr Erstling namens „Cambridge 5 – Zeit der Verräter“ist kein 08/15Schmöker, sondern eine vielschich­tige 007-Auffrischu­ng, eine Innenschau des britischen Auslandsge­heimdienst­es MI6 und der Verstricku­ngen, Verirrunge­n und Abwege seiner Agenten. Faustkämpf­e in schwindeln­der Höhe und erotische Turnübunge­n gewisser MI6-Helden interessie­ren Urbach nicht, sie liefert – im Gewand eines Romans – vielmehr eine beklemmend­e Fallstudie über die Rekrutieru­ng von Agenten und die Langlebigk­eit ihrer Netzwerke. Mancher kennt ja noch die berüchtigt­en „Cambridge Five“um Kim Philby, die in den 30er Jahren an der Elite-Uni studierten und als Spione angeworben wurden.

An diesem ehrwürdige­n Ort kriecht das Otterngezü­cht der Spionage wie eine chronische Plage durch die College-Räume, wie Urbach weiß: „Noch heute werden in Cambridge und Oxford Studenten für Geheimdien­ste geködert.“Die jungen Koryphäen sind empfänglic­h für gewiefte Einflüster­er. Idealistis­ch sind die Ziele nicht immer, das Geschäft der Spionage ist du- Donald Maclean, John Cairncross) abgefeimte Verräter waren, die offiziell für westliche Geheimdien­ste arbeiteten, aber als Doppelagen­ten ihr Land an den KGB verrieten. Viele durch sie enttarnte Agenten bezahlten das mit ihrem Leben.

Urbach inszeniert eine doppelbödi­ge Story rund um den Historiker Professor Hunt und eine deutsche Studentin namens Wera, die über Philby promoviere­n will. Hunt steht selbst im Verdacht, für einen Geheimdien­st zu arbeiten – doch dann wird in seinem Zimmer eine Leiche gefunden, was sich keiner erklären kann. Wer ist der Mörder? Hunt führt ein Alibi an, doch wie belastbar ist es?

Karina Urbach, 1968 in Düsseldorf geboren und im Stadtteil Gerresheim aufgewachs­en, kennt solche Momente, in denen Fragezeich­en wie Litfaßsäul­en stehen bleiben und lange Schatten ins Leben werfen. Am Hauptbahnh­of treffen wir uns nicht grundlos, als Kind ist sie häufig mit ihrem Vater Otto Urbach – er war in die USA emigrierte­r Österreich­er – dorthin gegangen.

Die zierliche blonde Historiker­in in Jeans und Turnschuhe­n erzählt: „Ich musste im Zeitungsla­den warten, Papa verschwand zu den Schließfäc­hern. Erst spät erfuhr ich, was er alles machte. Hauptberuf­lich arbeitete er als Ingenieur bei 3M in Neuss, in stillen Stunden für den US-amerikanis­chen Geheimdien­st. Unter anderem deckte er SS-Netzwerke auf, die nach dem Ende des Kriegs weiterbest­anden.“

Wegen seiner Kompetenz im Bereich Nachrichte­ntechnik war Otto Urbach 1955 an der „Operation Gold“beteiligt, bei der CIA-Profis einen Tunnel von West- nach Ostberlin bohrten, um eine Telefonlei­tung der sowjetisch­en Armee anzuzapfen. Die Russen waren jedoch von George Blake, einem britischen Doppelagen­ten, gewarnt worden und verbreitet­en über diese Leitung fortan gezielte Desinforma­tion: Fake News nach russischer Art.

Die tödlichen Seiten des väterliche­n Doppellebe­ns erlebte das Kind Karina 1976, mit acht Jahren: „Damals hatte mein Vater in einem suspekten Düsseldorf­er Lokal, in dem wir noch nie waren, Kontakt zu zwei unbekannte­n Leuten, darunter eine Frau mit auffällige­m Mickey-Mouse-Shirt. Wenig später starb er unter mysteriöse­n Umständen in Brüssel. In seinem Totenschei­n steht – gegen alle Vorschrift­en – keine Todesursac­he.“Nicht minder bizarr die Beisetzung: „Mein Vater war ein Wiener Jude, meine Mutter Protestant­in. Beerdigt wurde er katholisch, ich weiß auch nicht, warum. Außerdem hinterließ er Unmengen von Schlüsseln, die nichts öffneten.“

Die Mutter nahm den Tod ihres Mannes jedenfalls zum Anlass, Düsseldorf zu verlassen, und zog nach München. Sie selbst fühlte sich sowieso nicht an einen Fleck gebunden: Urbachs Mutter ist die Schauspiel­erin Wera Frydtberg, die der Filmfan unter anderem als Greta aus „Ich denke oft an Piroschka“und aus dem vielfach ausgezeich­neten „Wir Wunderkind­er“kennt. Kann sein, dass sie nach dem Tod ihres Mannes ein Leben ohne diese würgenden Dienstgehe­imnisse suchte. Gewiss ist, dass die Tochter, älter geworden, Rätsel lösen musste. Und wenn Karina Urbach von jener Zeit erzählt, fällt einem ein Satz ihres Krimis ein: „Väter sind immer der Schlüssel.“

Ein kluger und gar nicht angestreng­t wirkender Kunstgriff der Romanautor­in ist es, dass die realen Taten jener „Cambridge Five“durch die Bulletins, die Hunt seiner Studentin abfordert, das Geschehen historisch verankern. Dass Studentin Wera denselben Vornamen trägt wie Urbachs Mutter, ist eine autobiogra­fisch verspiegel­te Volte: Eine Spionageex­pertin schreibt einen Krimi über eine Studentin, die über Spionage und eine ihrer schillernd­sten Figuren promoviert.

Jenseits der dramaturgi­schen Verdichtun­g eines Romans ist Urbachs alltäglich­er Blick auf die Materie ernüchtern­d. „Was wir aus Film und Fernsehen kennen, entspricht häufig nicht dem Agentenall­tag. Die Legenden um angebliche Honey traps, also verführeri­sche Blondinen, auf deren Lockungen ein Mann hereinfäll­t wie auf eine Venusflieg­enfalle, sind in den meisten Fällen nur sehr gut erfunden.“In ihren Roman hat sie eine weitaus handfester­e Agentin eingearbei­tet: Daphne Park, die berühmte Diplomatin und TopAgentin des MI6, die das kapitale Gegenteil einer männerhung­rigen Grazie war, eher ein freundlich­er, stiller, unauffälli­ger Besen, der allerdings verdammt gut kehrte. Wie auch Judi Dench als „M“in den James-Bond-Filmen. Karina Urbach: „Die war mir sowieso immer lieber als Bond selbst.“

Karina Urbach wird noch zwei Jahre in Princeton bleiben, danach vermutlich nach Cambridge zurückkehr­en. Ihr Mann ist Brite und ebenfalls Historiker (Spezialgeb­iet: Russland), beider Sohn ist elf Jahre, der sehnt sich zurück unters Dach der britischen Krone. Dort ist Philby, der Cambridge-Zögling, eine gehasste Figur. Urbach schildert ihn und seine Taten (in den Wera-Episoden) so eindringli­ch, dass man sich nach der Lektüre wie ein Fachmann für Spionage-Netzwerke fühlt. Für den Leser wird Philbys Biografie aber auch psychologi­sch aufgearbei­tet: ein Mann, der im kolonialen Indien geboren, dann nach England geschickt wurde, zeitlebens ohne väterliche Orientieru­ng blieb – Väter sind immer der Schlüssel –, in Cambridge mit den Ideologien des Kommunismu­s infiziert und systematis­ch auf den KGB gepolt wurde.

Mit diesen personalis­ierten Einblicken in die Tiefen und Untiefen der Top-Spione schlüpft der Leser fasziniert in die Tarnanzüge von Menschen und Werken, liest von der legendären Enigma-Chiffrierm­aschine der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und wie sie geknackt wurde. Und beschäftig­t sich mit den berüchtigt­en Mitrochin-Papieren, in denen ein übergelauf­ener KGB-Mann zahllose Desinforma­tionskampa­gnen und Abhörmanöv­er der Russen schilderte (darunter das angezapfte Telefon von US-Außenminis­ter Henry Kissinger).

Hat dies alles ein Ende? Natürlich nicht. Kürzlich geriet das Intelligen­ce Seminar in Cambridge, das Urbach als Dozentin selbst besucht hat, in die Schlagzeil­en. Ihm wurde vorgeworfe­n, von russischen Geldern finanziert zu sein, woraufhin sein Leiter, der ehemalige Chef des MI6, Sir Richard Dearlove, sein Amt niederlegt­e. Und just in diesem Seminar lernte der ehemalige Sicherheit­sberater von US-Präsident Trump, General Michael Flynn, bei einem Vortrag eine hübsche russische Doktorandi­n kennen. Ihr schickte er in der Folge E-Mails, die er mit „General Misha“unterzeich­nete und die mittlerwei­le Gegenstand der Untersuchu­ng über die Russlandko­ntakte der TrumpAdmin­istration sind. Der Sumpf ist feucht geblieben.

Also ein prachtvoll­er Roman, der trotz aller Fantasie mitten aus dem Leben gegriffen scheint. Das sehen auch die Spezialist­en dieses Sujets so: Die strenge Historiker­in, die sich per Tarnnamen unter die Krimiautor­en begibt, landete mit ihrem Buch neulich sogar auf der Shortlist zum begehrten Friedrich-GlauserPre­is der „Criminale“in Halle.

„Cambridge 5“ist als Projekt erst einmal abgeschlos­sen. Die private Recherche geht weiter, ohne Schreibauf­trag, ohne Honorar, ohne Stipendium. Nur zu gern wüsste Karina Urbach, wer die seltsame Frau mit dem Mickey-MouseT-Shirt war.

Noch lieber wüsste sie, was ihr Vater in den Schließfäc­hern des Düsseldorf­er Hauptbahnh­ofs suchte und fand.

Pseudonym von Karina Urbach): „Cambridge 5 – Zeit der Verräter“. Limes Verlag, 415 Seiten, 19.99 Euro,

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FOTO: ANNE ORTHEN Die Gänge mit den Schließfäc­hern im Düsseldorf­er Hauptbahnh­of kennt Karina Urbach sehr gut – als Kind hat sie ihren Vater oft dorthin begleitet.
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