Pianistische Klarheit statt Nebelbank
Zum 100. Todestag des französischen Komponisten Claude Debussy sind viele Neuaufnahmen seiner Klavierwerke erschienen.
Die Vorstellung hat etwas Verführerisches: sich nachts in Paris in einem der großen Museen, am besten in der Gare d’Orsay, einschließen lassen, allein inmitten der Gemälde der Impressionisten und dazu ein, zwei CDs mit Musik von Claude Debussy akustisch inhalieren. Die perfekte Allianz. Wirklich?
Es ist Vorsicht geboten bei einer Gleichstellung von Manet, Monet oder Renoir mit der Musik von Claude Debussy. Denn dieser wollte eines nicht sein: ein Impressionist. Er wollte nicht als Meister der Andeutungen, des Ungefähren, Vagen gelten. Und doch tappen vor allem Pianisten immer gern in die Impressionisten-Falle. Sie wattieren seine Musik. Besondere Gefahren lauern bei zu viel Pedaleinsatz. Dann verschwimmen einzelne Töne, Übergänge verwischen. Alles ganz praktisch, nur leider am Ideal des Claude Debussy vorbei. Er war ein Freund der Klarheit, von Clarté. Dass Debussy in seinen Partituren kaum Hinweise zur Pedalisierung hinterlassen hat, macht das Ganze nicht gerade einfacher.
Dieser Gefahren bewusst, hat der berühmte italienische Pianist Arturo Benedetti Michelangeli, dessen Debussy-Aufnahmen immer noch zum Kreis der Referenzen zählen, einen Trick angewandt. Bei seinen Produktionen hat er in drei Metern Abstand einen zweiten Flügel stehen gehabt, das Pedal durchgetreten und einen Keil dazwischen geklemmt. Während Michelangeli also auf dem anderen Flügel spielte, erzeugten die Saiten des unbenutzten, nur-mitschwingenden Flügels einen äolsharfen-ähnlichen Effekt. Debussy, ein Impressionist?!
Bereits 2012 schwappte anlässlich des 150. Geburtstages eine große Debussy-Welle durchs Musikmeer. Nun kommt der zweite Bug im 100. Todesjahr. Es wirkt ein bisschen befremdlich, dass ein gleichermaßen beliebter wie in seiner Ausdrucksweise revolutionärer Komponist wie Debussy auf dem aktuellen Buchmarkt fast keine Rolle spielt. Für grundlegende Biografien oder Werk-Betrachtungen muss man leider auf Altbestände zurückgreifen. Anders präsentiert sich der CDMarkt. Debussy verkauft sich im- mer gut, mit Stücken wie „Clair de lune“lässt sich jede Kuschel-Klassik-CD bestens bestücken oder auch mancher Werbe-Spot, ob für Feinwaschmittel oder Medikamente bei Blasenschwäche. Debussy, ein Impressionist?!
Debussy hat seine Werke oft nach inneren Vorstellungen geschrieben, er ist nicht, wie die Maler, mit einer Staffelei in die Landschaft gezogen, um dort Noten statt Farben aufzutragen. Er hat nach Bildern komponiert, die in seinem Kopf abliefen, etwa beim Orchesterwerk „La mer“. Doch er wollte seine Musik nicht immer als Eins-zu-eins-Entsprechung seiner Bilder verstanden wissen. In den zwei Bänden seiner „Préludes“für Klavier hat er die Titel extra ans Ende der Stücke gesetzt; er möchte Interpreten und Hörer nicht bevormunden, sondern ihnen nur mögliche Assoziationen anbieten. Nicht mehr, nicht weniger.
Die „Préludes“sind eine Bewährungsprobe für jeden Pianisten. Allein die nachgeschobenen Titel klingen wie Musik: „Les sons et les parfums tournent dans l’air du soir“(Klänge und Düfte erfüllen die Abendluft), „La cathédrale englou- tie“(Die versunkene Kathedrale). Doch schon das erste Stück stellt eine hohe pianistische Hürde dar: „Danseuses de Delphes“(Tänzerinnen von Delphi). Da folgt nach elf Takten eine tief liegende Bassoktave, sie bildet sozusagen das Fundament. Wie lange aber darf diese Bassnote liegen bleiben, wie lange darf sie mit dem Pedal ausgehalten beziehungsweise verlängert werden? Denn über dem liegenden Basston, dem Orgelpunkt, gibt es parallel geführte Akkorde in der Mitte, ziemlich kompakt, und dazu, noch höher, eine Melodiestimme im Diskant, die unabhängig ist – und alles pianissimo, also sehr leise zu spielen. Hier darf man nicht mit dem Bleifuß operieren, um die Bassoktave ad infinitum zu verlängern. Vielmehr braucht es Fingerspitzen- und Fußgefühl, um Debussys „Clarté“entsprechen zu können.
Daniel Barenboim hat nun den ersten Band der „Préludes“veröffentlicht (bei der DGG). Im Kleingedruckten liest man, dass es sich hierbei um die CD-Version einer bereits 1998 entstandenen DVD-Fassung handelt. Neu an dieser Produktion sind nur die „Estampes“sowie drei weitere kleinere Stücke. Barenboim spielt besagte Stelle im ersten Prélude seltsam wattig. Man hört eine Basslinie, die schnell ins Nichts verschwindet, darüber beginnen Mittel- und Oberstimme zwar differenziert, doch je länger die Passage dauert, desto mehr verschwimmt alles. Da ist er also, der Klangnebel, den Debussy nicht mochte, Konturen, die sich auflösen. Hinzu kommt: Barenboim spielt das, wie so oft auf dieser CD, sehr langsam, fast schleppend, als sollte der Hörer bei diesem Debussy die Entdeckung der Langsamkeit neu lernen.
Das aber ist bezeichnend für seine Debussy-Aufnahme: Barenboim meidet alles Grelle, und so werden Dämpfung und Zurücknahme bei ihm zum Schlüssel für Debussys Klangwelten. Seine Farben verraten pianistische Klasse. Das klingt stel- lenweise traumhaft schön. Was jedoch durch diesen eher sanften, pastellenen Ansatz verloren geht, ist der Blick auf Debussys Modernität, auf seine kühne Rhythmik, auf die gewagten Harmonien, die einzelnen Blitze.
Wer Debussy in fast kaltes, gleißendes Licht getaucht erleben möchte, sollte sich an Friedrich Gulda halten, der die beiden „Préludes“-Bände in den 50er und 60er Jahren mehrfach aufgenommen hat. Zuletzt wiederveröffentlicht wurde seine Einspielung vom Februar 1969 (bei MPS). Das Besondere hier: Die Mikrofone waren nah an die Saiten des Flügels gerückt. Dadurch schwindet das Gefühl des Raumes, die Musik gewinnt an Intimität und an (Tiefen-)Schärfe. Wenn der Wind über die Ebene bläst: welch schneidende Plastizität. Wenn die Terrassen im Mondlicht schimmern: welch gleißender Mond. Wenn am Ende das Feuerwerk gezündet wird: Jeder einzelne Funke wird hörbar, spritzt auf, verglüht. Debussy, ein Impressionist?!
Nach den „Zwölf Etüden“1992 und dem ersten Band der „Préludes“1998 lässt Maurizio Pollini, knapp zwei Jahrzehnte später, den zweiten Band folgen, ergänzt um eine Besetzungs-Premiere: erstmals tritt er mit seinem Sohn Daniele vor die Mikrofone, um mit ihm die dreiteilige Suite „En blanc et noir“zu dokumentieren (bei der DGG). Pollinis Rang als prägender Pianist des 20. Jahrhunderts ist unstrittig. Dennoch kann er mit dieser Neuveröffentlichung nicht an alte Höhen anknüpfen. Die Akzente in „La Puerta del Vino“schummern, den schlichten Eröffnungstönen in „Bruyères“mangelt es an Intensität und Formung. Das tiefe Verständnis, das Pollini Debussy entgegenzubringen vermag, kommt hier nicht angemessen zur Geltung.
Ungleich spannender ist die Einspielung mit Stephen Hough (bei Hyperion). Sein Debussy-Album enthält neben den „Estampes“auch die beiden Bände der „Images“und „Children’s Corner“sowie zwei Einzelwerke. Hough bewegt sich seiltänzervirtuos auf der Grenzlinie: Flimmert das jetzt schon, oder wahrt er gerade noch das erforderliche Maß an Transparenz? Das gilt für „Reflets dans l’eau“in „Images“ebenso wie für „The little shepherd“in den Kinderstücken. Hough arbeitet mit Farben, Schattierungen und Übergängen, das schillert, das ist poetisch und hat Flair.
Neben einer Aufnahme von Altmeister Menahem Pressler (die außerdem Musik von Fauré und Ravel enthält, bei DGG) ist abschließend Michael Korstick zu nennen. Er hat 2011 mit einer Gesamteinspielung aller Debussy-Klavierwerke begonnen und legt nun mit den zwölf haarsträubend schwierigen Etüden den Abschluss des Projekts vor (bei SWR Music). Alles durchdacht und durchleuchtet, nie romantisiert. Wer einen kompletten Debussy-Zyklus der gehobenen Kategorie sucht – hier wird man fündig.
Der Komponist mochte es nicht, wenn Pianisten das Pedal übermäßig
lang durchtreten Barenboim interpretiert
die „Préludes“sehr langsam und fast schleppend