Streit der Patriarchen
Die Ukraine ist ihrem Ziel einer kirchlichen Unabhängigkeit von Russland nähergekommen – sehr zum Ärger des Kremls.
MOSKAU/KIEW Es ist eine historische Entscheidung, und ihre Folgen sind noch gar nicht abzusehen: Bartholomaios I., das Oberhaupt aller orthodoxen Christen, hat entschieden, der ukrainisch-orthodoxen Kirche die Selbstständigkeit zu verleihen. Bartholomaios widerrief damit die alte Zuschreibung, die vor 332 Jahren die Ukraine dem Moskauer Patriarchat zugeschlagen hatte.
In Kiew löste die Nachricht aus Istanbul, dem einstigen Konstantinopel und Sitz des Patriarchen, großen Jubel aus. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko bewertete die Entscheidung als „großen Sieg des freiheitsliebenden ukrainischen Volkes“. Es werde eine autokephale (eigenständige) orthodoxe Kirche der Ukraine geben, sagte Poroschenko in einer Fernsehansprache. Moskaus „imperiale Illusionen und chauvinistische Fantasien“seien von der Heiligen Synode zerstreut worden.
Dass es hier nicht allein um kirchenrechtliche Fragen geht, sondern vor allem um Macht und Einfluss, wurde auch in Moskau umgehend klar. So war die drohende Kirchenspaltung Thema im russischen Sicherheitsrat mit Präsident Wladimir Putin. Der Kreml äußerte sich besorgt. Russland werde die Interessen der Orthodoxen in der Ukraine schützen, erklärte der Sprecher von Putin. Das werde ausschließlich auf politischem und diplomatischemWeg geschehen. Eine nicht unwichtige Präzisierung.
Patriarch Bartholomaios ist als Oberhaupt der Weltorthodoxie „Erster unter Gleichen“und informell Gebieter über 250 Millionen orthodoxe Christen. Im Frühjahr hatten sich das ukrainische Parlament und Präsident Poroschenko mit der Bitte an den Kirchenmann gewandt, der Bildung einer eigenen ukrainisch-orthodoxen Kirche zuzustimmen. Poroschenkos Kalkül: Sollte dies noch vor den Präsidentschaftswahlen im kommenden Frühjahr gelingen, wäre das für ihn ein großer Erfolg und eine enorme Wahlkampfhilfe.
Zuvor hatte Bartholomaios ähnliche Anliegen mehrfach abgewiesen. Er zögerte offenbar, weil er mit der russisch-orthodoxen Kirche immer noch auf einen Ausgleich hoffte. Vie- le Kirchen und Klöster in der Ukraine sind dem Moskauer Patriarchat unterstellt. Schon eine friedliche Aufteilung der Besitztümer schien einem frommen Wunsch zu entspringen. Umso mehr würde dies im Fall einer Trennung im Streit gelten.
Die russische Kirche zeigte sich für Kompromisse jedoch nicht empfänglich. Moskaus Geistliche ließen alsVertreter der größten orthodoxen Kirche den Patriarchen Bartholomaios ziemlich deutlich spüren, wie gering sie ihn schätzten und wie überlegen sie sich ihm fühlten. Sie ließen auch keine Zweifel aufkommen, dass sie nach der führenden Rolle im ökumenischen Patriarchat trachteten und mit Hilfe des Kremls über kurz oder lang die Führung in der orthodoxen Welt übernehmen wollten. Daher boykottierten die russischen Vertreter 2016 auch das panorthodoxe Konzil auf Kreta.
Die russische Kirche war sich ihrer Sache so sicher, dass der jüngste ukrainische Antrag auf Autokephalie offenbar nicht ernst genommen wurde. Erst spät bemerkte man in Moskau, dass man dabei war, die Kontrolle zu verlieren. Hals über Kopf reiste Moskaus Patriarch Kirill Ende August dann doch noch ans Goldene Horn, um zu intervenieren.
Doch Bartholomaios ließ sich von seinem Kurs nicht mehr abbringen. Zumal Kirill ziemlich ungeschickt mit einem Heer aus Sicherheitsbeamten angereist war, wie um Moskaus hegemonialen Anspruch zu untermauern. Der martialische Auftritt überschattete das Treffen der Geistlichen, schrieb die„Nowaja Gaseta“. Überstürzt verließ die russi- sche Delegation das Treffen – offensichtlich im Unfrieden, ohne Gebet und gemeinsame Mahlzeit, wie Beobachter irritiert registrierten.
Kurz darauf schickte Bartholomaios zwei Bischöfe aus der amerikanischen und kanadischen Diaspora in die Ukraine, um die Voraussetzungen für eine mögliche Autokephalie zu prüfen. Drei orthodoxe Kirchen wirken in der Ukraine: Neben der größten, der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, die ukrainische Kirche des Kiewer Patriarchats und eine kleine autokephale Kirche, die ihren Ursprung in der Diaspora hatte. Moskau erkannte jedoch die Abspaltung des Kiewer Patriarchats nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1992 nicht an, da die Loslösung nicht auf kanonischem Recht beruhte.
Die Missionsreise der beiden Bischöfe aus Amerika spitzte die Lage zu. Die russische Kirche sprach von einer „Invasion“ihres Territoriums und verhängte sogar einen Bannspruch über Bartholomaios: In Gebeten und Predigten darf der Name des Geschassten seither nicht mehr erwähnt werden. Gleichzeitig kündigte die Russen die Mitarbeit in allen geistlichen Gremien der Orthodoxie auf. Der für die Außenbeziehungen zuständige Metropolit Ilarion drohte sogar damit, alle Kontakte abzubrechen. „Der Patriarch von Konstantinopel begibt sich auf diese Weise auf den Kriegspfad“, sagt Ilarion. Anhänger des Moskauer Patriarchats forderte er auf, umstrittene „heilige Orte“zu schützen. Das Blutvergießen könne beginnen, meinte er.
Die russisch-orthodoxe Kirche hatte sich zuletzt einem prononcierten Nationalismus verschrieben. So spielte sie bei der russischen Annexion der Krim und der Besetzung der Ostukraine als Teil der Moskauer Kriegsmaschinerie eine unrühmliche Rolle. Popen weihten dieWaffen der vermeintlichen Separatisten und weigerten sich, gefallenen Glaubensbrüdern der anderen Seite das letzte Geleit zu geben. Das wiederum hat den ukrainischen Nationalismus und antirussische Ressentiments kräftig befördert. Je deutlicher sich die Ukrainer jedoch von Russland distanzieren, desto inbrünstiger beschwört Moskau die gemeinsamen historischen Wurzeln. Und die Lage ist vertrackt: So gilt Kiews Wahrzeichen, das Höhlenkloster „Lawra“, als Geburtsstätte der ostslawischen Orthodoxie, gehört als Liegenschaft aber dem Moskauer Patriarchat.
Roman Lunkin, Religionswissenschaftler an der Russischen Akademie der Wissenschaften, fürchtet, dass das geistige Band der Orthodoxie allmählich zerreißen könnte. „Der Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche wird in Zukunft nur noch abnehmen“, glaubt er. Bislang steht die russische Kirche mit ihrer Forderung, die Ukraine beim Moskauer Patriarchat zu belassen, allein da. Die meisten orthodoxen Nationalkirchen wollen der Ukraine nicht vorenthalten, was sie für sich selbst in Anspruch nehmen. Auch jene nicht, die enge Beziehungen zu Moskau unterhalten.