Pfaffs Hof
Alle anderen waren katholisch und durften in ihren Klassen bleiben. Die Direktorin nahm uns mit durch die Pausenhalle in den Flur, in dem das Lehrerzimmer war, und führte uns in den Vorraum zur „Lehrerbibliothek“, in dem sechs Erwachsenentische mit Lederstühlen standen.
„Ihr lasst bitte eure Schultaschen in euren Klassenzimmern und nehmt nur das mit, was ihr für den Religionsunterricht braucht. Nach der Stunde kehrt ihr unverzüglich in eure jeweiligen Klassen zurück.“Sie guckte mich an, und ich nickte. „Jeden Mittwoch ist um acht Uhr Schulgottesdienst, für euch im Versöhnungssaal der evangelischen Gemeinde.Weiß jede von euch, wo der ist?“
Cornelia und ich wussten es nicht. Ich würde mit dem Bus eine Station weiter fahren müssen.
Nach dem Gottesdienst sollten wir zur Schule laufen – „und zwar ein bisschen zackig!“.
Pünktlich zu Beginn der zweiten Stunde mussten wir in unseren Klassen sitzen.
Die dunkle Silke schimpfte vor sich hin, und die Direktorin grinste. „Ja, ich weiß, die katholische Kirche ist gleich um die Ecke, und eure Mitschülerinnen haben es leichter. Aber so ist das nun mal. Und als aufrechte Protestanten seid ihr doch Kummer gewohnt. Zeigt mal ein bisschen Sportsgeist!“Evangelisch war die nicht. Es schellte.
„Ihr holt bitte eure Pausenbrote aus euren Klassen und dann ab auf den Schulhof, meine Lieben!“Sie klatschte in die Hände. „Und es wird nicht gelaufen!“
Der Schulhof war sehr schön, nicht gepflastert oder asphaltiert wie bei meinen anderen Schulen, sondern ein großer Rasen mit Hecken und Büschen drum herum.
Wir Evangelischen standen zusammen.
Die zwei aus der Sexta a) hießen Beatrix und Christine.
Die Silkes hatten beide ältere Schwestern an der Schule und konnten viel erzählen.
Sie nannten Frau Dr. Clemens nur „die Direx“, Herrn Erich „Paffi“. Der junge Lehrer mit der Tolle hatte den Spitznamen „Adonis“, und die ganze Oberstufe schwärmte für ihn. Die alten Juffern wohl auch, wie man so hörte . . .
Die Silkes kicherten.
Frau Illner, unsere Religionslehrerin, war eigenartig.
Ich konnte nicht schätzen, wie alt sie war.
Sie hatte kurzes Haar, nicht blond, nicht braun, und glupschige blaue Augen.
Sie war sehr ernst, und wenn sie mal lächelte, dann nur mit dem Mund.
Sie gab Latein, Geschichte, Englisch und evangelische Religion, und ich dachte, dass sie wohl sehr klug sein musste.
Wenn sie etwas sagte, konnte man gar nicht anders als ihr zuzuhören, und mir lief manchmal ein Schauer über den Rücken.
„Man hat mir den Verwaltungskram aufs Auge gedrückt“, sagte sie und verteilte hektographierte Blätter, die noch ein bisschen feucht waren und lecker nach Matrize rochen.
Dort mussten wir alles Mögliche eintragen: unsere Namen und Adressen, die Geschwister, die Namen und Geburtsdaten unserer El- tern und deren Berufe.
Ich wusste, ich hatte meine Zunge zwischen den Lippen, als ich„Justizvollzugsoberwachtmeister“hinschrieb.
Wir saßen nebeneinander an den Tischen, und Frau Illner schaute uns über die Schultern und sprach mit uns wie mit Erwachsenen.
Der Vater der langen Silke war „Geschäftsmann“, die Mutter „Sekretärin“.
„Ihr habt eine Buchbinderei, nicht wahr?“
Die dunkle Silke hatte einen „Direktor“zum Vater und eine „Hausfrau“zur Mutter, wie ich.
„Was für ein Direktor?“– „Ach, in der Schuhfabrik.“
Christine aus der Sexta a) kam aus einem Dorf an der Grenze, ihr Vater war Lehrer.
Und Beatrix’ Vater war „unbekannt“.
„Du bist ein unehrliches Kind?“Frau Illner lächelte ihr Lächeln. „Das ist doch mal ein schönes Thema.“
Dann erzählte sie uns, dass unehrliche Kinder absolut gleichberechtigt waren und dass man deren Mütter auf gar keinen Fall „diskriminieren“durfte.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte es richtig sein, wenn man unehrlich war? Man durfte doch nicht lügen!
Ich beschloss für mich, dass Frau Illner ein bisschen verrückt war.
Erst als sie sagte, die Ehe sei nicht die einzige „akzeptable Lebensform“, und ob ein Kind ehelich oder unehelich geboren wurde, sei völlig egal, verstand ich, wovon sie die ganze Zeit gesprochen hatte, und wurde rot – ganz für mich allein.
Es schellte, aber bevor wir in unsere Klassen gehen konnten, drückte uns Frau Illner noch einen Zettel in die Hand.
„Gebt den bitte euren Eltern. Es geht um die Anmeldung zur Konfirmation, beziehungsweise zum Katechumenenunterricht. Wir sehen uns dann am Mittwoch im Gottesdienst.“
Mutter wollte alles über die Schule wissen, und das ging mir auf die Nerven. Sie verstand sowieso nichts.
Vor allen Dingen wollte sie mir jeden Tag die Englischvokabeln abhören.
„Dann kann ich auch Englisch lernen . . .“
Es war schrecklich, sie sprach alles falsch aus. Und obwohl ich ihr immer wieder das „th“vorsprach, das „r“und das„w“, machte sie es trotzdem nie richtig.
Sie wollte es nicht wirklich lernen, sondern kicherte nur herum. „Wieso sprechen die denn so komisch?“
Nach ein paar Tagen ließ sie mich dann Gott sei Dank in Ruhe, denn es sah so aus, als würden wir das Haus kaufen.
Andauernd kamen Männer zu uns.
Zuerst Vaters Kollege, der frühere Buchhalter. Er rechnete alles durch.
Dann zwei von der Spar- und Darlehenskasse, die noch mal nachrechneten.
Und fast jeden Tag tauchte auch Schmierling auf.
Ich verstand nicht genau, warum. Er redete von „Gewerken“und „Materialkosten“, und zweimal brachte er Handwerker mit.
Ich hatte nicht gewusst, dass ein Makler sich auch um solche Sachen kümmerte.