Am Ende der „Lindenstraße“
Die ARD stellt nach 34 Jahren die Serie „Lindenstraße“ein. Früher bot diese noch Konflikt- und Gesprächsstoff. Solche Zeiten sind lange vorbei. Ein Abschied.
KÖLN Sonntags kam Oma abends immer zum Essen. Gegen 18 Uhr landeten die Speisen auf dem Tisch. Brauchte meine Mutter manchmal etwas länger in der Küche, brachte das Oma jedoch sehr unter Zugzwang. Wanderte der Zeiger unerbittlich weiter Richtung zwanzig vor sieben, wurde sie hektisch: Da schlang sie schon mal die letzten Bissen hinunter und verzichtete aufs Dessert. Spätestens um 18.39 Uhr ließ sie sich in den Sessel fallen – um 18.40 Uhr, wenn die nervtötende Fanfare aus München ertönte und die „Lindenstraße“begann, musste sie vor dem Fernseher sitzen. Und ich saß neben ihr.
Gemeinsam verfolgten wir in den 80er Jahren, was sich abspielte in Deutschlands bekanntester Straße. Und komischerweise hatten ein Teenager und eine Über-70-Jährige an derselben Serie Spaß. Der Grund ist einfach: Wir hatten ja nix und kannten nichts anderes. 1985 startete die Serie nach englischem Vorbild und bildete das Leben in einer Münchner Straße ab. Auch alle meine Schulfreunde wussten, was in der Wohngemeinschaft und bei den Beimers gerade los war. Und bei vielen Mädchen änderte sich die Gesichtsfarbe, als sie hörten, dass Nicole aus der Parallelklasse mit dem echten Benny Beimer in der Tanzschule war und mit ihm zum Abschlussball ging. Benny Beimer!Wahnsinn.
Bei den Gesprächen darüber wehte durch die Kleinstadt nahe Köln ein Hauch von Hollywood. Auch wenn unser Hollywood nur „Hollymünd“hieß und ein paar Kilometer weiter im Kölner Stadtteil Bocklemünd lag. Dort wurde die „Lindenstraße“gedreht, nicht in München – trotz der Frauenkirche imVorspann. Im Sommer war das Gelände jedesWochenende geöffnet, es gab Liveshows und Führungen durch die Serien-Kulissen. Der Andrang war so groß, dass man sich weit im Voraus anmelden musste. Die Schauspieler wurden damals im wahren Leben für die Fehler ihrer TV-Figuren angefeindet.
Noch im Studium war die „Lindenstraße“die Sendung, für die man sich sonntags spätestens aus dem Bett schleppte, egal wie schlimm der Vorabend geendet ist. Aber das waren noch die Zeiten von Joschi Bennarsch, Berta Griese, dem fiesen Tennis-Trainer Nossek und Else Kling. Ach, Else Kling... Die Hausmeister-Gattin kommentierte die erotischen Eskapaden im Haus gerne mit einem abschätzigen„Sodom und Gomera“. Und das ist weder ein Schreibfehler noch fehlendes biblisches Wissen.
Aber solch eine Figur gibt es schon lange nicht mehr in der Serie. Auch solch ein großes Interesse vermag die „Lindenstraße“nicht mehr zu wecken – nicht nur bei mir. In Hochzeiten schalteten mehr als zwölf Millionen Zuschauer ein, in Spitzenzeiten 14 Millionen. Aber je mehr Sender und Kanäle hinzukamen, desto geringer wurden die Zuschauerzahlen. Mittlerweile sind es zwei Millionen, wenn es gut läuft. Das ist nur unterdurchschnittlicher Marktanteil im ARD-Programm. Als Kosten wurde früher ein niedriger sechsstelliger Betrag pro Folge kolportiert.
Nun hat die Fernsehprogrammkonferenz der ARD beschlossen, die „Lindenstraße“nach gut 34 Jahren zu beenden. Man habe sich mehrheitlich gegen eine Verlängerung des Produktionsvertrags entschieden, teilte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) mit. Die letzte Folge wird im März 2020 im Ersten zu sehen sein. Programmdirektor Volker Herres sagte zur Begründung, unvermeidbare Sparzwänge und das Zuschauerinteresse seien nicht vereinbar mit den Produktionskosten für eine solch hochwertige Serie.
Hochwertigere Serien gibt es heute auf x Kanälen und bei Streamingdiensten. Im Vergleich dazu wirken die „Lindenstraße“und der ewig-gleiche Gesichtsausdruck von Mutter Beimer piefig und langweilig. Kritiker störte vor allem der Anspruch der Weltverbesserer, wenn zu Tschernobyl,Waldsterben und rechtsextremer Gewalt politisch korrekt diskutiert wurde. Der Episodentitel am Anfang wurde seit 1993 immer in mehreren Sprachen gezeigt. Die Serie hatte schon manchmal etwas vom Programm der „Bundeszentrale für politische Bildung“. Produzent Hans W. Geißendörfer (87) und seine Tochter und Nachfolgerin Hana (34) reagierten verärgert auf die Absetzung: „Wir sind bestürzt und können nur unser Unverständnis zum Ausdruck bringen.“In Zeiten von Rechtsruck und Ausländerfeindlichkeit sei die Serie „wichtiger denn je“.
Jahrelang war sie in der Lage, gesellschaftspolitische Akzente zu setzen und Tabus zu brechen. Sie zeigte 1987 als eine der ersten einen Kuss unter Homosexuellen, thematisierte Aids, Alzheimer, Unfruchtbarkeit, Rechtsextremismus, Drogensucht und Wechseljahre. Stolz war man immer auf die Aktualität: Einige Szenen wurden nachgedreht, um so politische Ereignisse oder Wahlergebnisse beleuchten zu können. Als der Vietnamese Gung 1998 auf Plakaten als Kanzlerkandidat gepriesen wurde, gab es bei der echten Bundestagswahl ungültige Wahlzettel, auf denen Gung vermerkt war. Die „Lindenstraße“war ein Spiegelbild der Republik. Doch heute ist die Vielfalt so groß, fast alles wurde schon in Serien thematisiert und gezeigt – sie ist nur noch eine von vielen.
Auch für die ARD war sie das: Fans sagen, der Sender habe mit zum Niedergang beigetragen, weil die Serie keine Lobby hatte. 2005 wurde die Anfangszeit auf 18.50 Uhr verändert, meine Oma erlebte das nicht mehr. Während der WM 2010 wurde eine Folge nicht im Ersten ausgestrahlt, sondern kurz
vor Mitternacht auf einem Spartensender. Die Kritik der Fans führte dazu, dass es am nächsten Sonntag eine Doppelfolge gab. 2012 während Olympia fielen einige Folgen ganz aus, die Serie lief im Zwei-Wochen-Rhythmus. 2017 gab es gar erstmals eine Sommerpause. Es schien, als wolle die ARD die Zuschauer schon mal an ein Leben ohne Beimers, Zenkers und Sarikakis’ gewöhnen.
Die „Lindenstraße“stirbt, es wird ein langer Abschied. Sie wurde immer renoviert, aber nie grundlegend erneuert. Die Trauer außerhalb der harten Fan-Szene hält sich in Gren
zen. Das Netflix-Abo wartet.