Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Mittlerweile wollten beide sich an diese Mitgliedschaft nicht mehr erinnern. Besonders nachdem der Film„Riot Club“in die Kinos gekommen war, ein Film, der die perversen Clubspiele reicher Oxfordstudenten zeigte. Ein paar der Au-pair-Mädchen hatten den Film gesehen und fanden darin all ihre Vorurteile bestätigt. Trotzdem wollten sie unbedingt alles über diese Superreichen wissen. Polina hatte ihnen erzählt, dass im Pitt Club an manchen Abenden mehr Aristokratie versammelt war als bei einer Königshochzeit. Die Au-pairMädchen hofften, dass eines Tages jemand, den sie aus dem Fernsehen kannten, den Club besuchen würde, vielleicht sogar Prinz Harry. Darauf musste man zumindest vorbereitet sein, und sie suchten sich ihren Tisch deshalb immer strategisch mit Blick auf die Eingangstür aus. Wenn jemand durch diese Tür kam und die Treppe zum Pitt Club hinaufstieg, konnten sie ihn zumindest aus der Entfernung beobachten. Ein paar von ihnen hatten immer das Handy griffbereit, um alles zu dokumentieren. Natürlich kamen sie nicht nur wegen der potenziellen Stars. Polina hatte das Restaurant ausgesucht, und es war auch Polina, mit der sie reden wollten. Seit einem Jahr war die junge Russin für die Au-pairs die wichtigste Anlaufstelle in Cambridge. Polina half bei Männer- und Gesundheitsproblemen, und sie wusste, wie man eine neue Gastfamilie finden konnte, wenn es mit der alten nicht mehr auszuhalten war. Es war Polina, die man nachts um drei mit Blinddarmschmerzen anrufen konnte und die einen in die Notaufnahme brachte.
Polina arbeitete für die Plovers, eine besonders anspruchsvolle Gastfamilie. Jeden Tag musste sie den siebenjährigen Plover-Zwillingen das Frühstück machen, sie in die Schule bringen, das Haus putzen und einkaufen. Dann fuhr sie mit dem Rad zu ihren anderen Putzstellen, bis sie die Kinder um drei Uhr wieder von der Schule abholte, ihre Hausaufgaben überwachte und anschließend ein warmes Abendessen kochte. Herr und Frau Plover kamen oft erst nach Hause, wenn die Zwillinge schon im Bett lagen. Die Plovers waren beide Professoren für Informatik, die fast den ganzen Tag in ihrer Fakultät verbrachten und auch am Wochenende wenig Zeit hatten. In mühevoller Arbeit hatte Polina es geschafft, das Leben der Zwillinge besser zu organisieren. Sie saßen jetzt nicht mehr ausschließlich vor ihren iPads, sondern gingen gelegentlich mit ihr auf den nahe gelegenen Spielplatz Lammas Land.
Polinas Zeitmanagement war zum Vorbild für die anderen Au-pairs geworden. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass Polina zwar in dem Körper einer Zweiundzwanzigjährigen steckte, aber die Reife einer weisen Frau besaß. Die lateinamerikanischen Au-pairs nannten sie aus diesem Grund auch eine „alte Seele“. Polinas Erfahrung war für die Au-pair-Mädchen wichtig, denn nur wenige von ihnen hätten sich als glücklich bezeichnet. Ihre Arbeitszeiten waren lang und das Taschengeld zu gering, um in einer teuren Stadt wie Cambridge öfters ausgehen zu können.Viele von ihnen hatten Heimweh. Sie kamen aus unterschiedlichen Kulturen und fühlten sich in der englischen Familienwelt häufig desorientiert: Die deutschen Au-pair-Mädchen fanden es merkwürdig, dass englische Frauen sich kaum mit Hausarbeit beschäftigten. Die osteuropäischen Au-pairs verstanden nicht, warum englische Kinder so ungehorsam waren und nicht strenger diszipliniert wurden. Die lateinamerikanischen dagegen waren entsetzt über die mangelnde Wärme der englischen Mütter, die ständig darüber nachzudenken schienen, wo sie ihre Kinder als Nächstes abladen konnten.
Polina schien all die kulturellen Unterschiede zu verstehen und erklärte den Mädchen, wie man Gastkinder und Eltern unter Kontrolle bekam. Für die Treffen im Pizza Express hatte sie ein Protokoll entwickelt, damit die einzelnen Probleme Punkt für Punkt abgearbeitet werden konnten. Es basierte auf dem Modell der Anonymen Alkoholiker. Zuerst musste jedes Mädchen seine Leidensgeschichte erzählen, schonungslos und inklusive der eigenen Fehler. Es war eine Überwindung für viele, aber sie konnten sich darauf verlassen, dass ihre Zuhörer ihnen großesVerständnis entgegenbrachten. Der nächste Schritt war dann die Beratung durch den jeweiligen „Sponsor“. Polina suchte für jedes Mädchen eine geeignete Patin aus: jemanden, der schon Erfahrungen in diesem Geschäft gesammelt hatte und die Fallstricke kannte. Es war ein System, das gut funktionierte.
Auch jetzt hörten alle aufmerksam dem Bericht eines schüchternen Mädchens aus Rumänien zu. Es musste drei Kinder betreuen, die ihm das Leben zur Hölle machten. Die anderen Au-pair-Mädchen warfen sich wissende Blicke zu, es war eine vertraute Geschichte. Polina wartete, bis die Rumänin ihren Vortrag beendet hatte, und erklärte ihr dann die „Null-Toleranz-Methode“. Kinder, so Polinas Argumen- tation, waren wie Hundewelpen. Sie brauchten Ordnung, Routine und klare Grenzen. Sobald sie diese Grenzen übertraten, mussten sie sofort bestraft werden, andernfalls würden sie ihre Fehler wiederholen. Die anderen Mädchen nickten. Sie hatten Polinas Vortrag schon ein paar Mal gehört, aber er half ihnen immer wieder. Es war schön, Polina dabei anzusehen. Sie hätte ein Model sein können mit ihren hohen Wangenknochen und den wunderschönen grünen Augen. Aber sie war eine von ihnen.
29. Oktober 2014 Bootshaus Trinity College Cambridge
Wera hatte sich das Rudertraining einfacher vorgestellt. Um fünf Uhr früh aufzustehen war schlimm genug gewesen. In der Dunkelheit hatte sie zuerst ihr Fahrradschloss nicht aufsperren können, und dann hatte sie Mühe gehabt, das Bootshaus vom Trinity College zu finden. Aber am schlimmsten war es, dass ausgerechnet David ihr Cox war. Sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung gehabt, was ein Cox tat, doch nach einer qualvollen Stunde auf dem Fluss war ihr klar geworden, dass es sich um eine Art sadistischen Steuermann handelte, der vorne im Boot saß und nichts anderes tat, als die Ruderinnen anzuschreien.
Sie hätte nie gedacht, dass der sensibel aussehende David so brüllen konnte, aber er war anscheinend durchaus fähig, Härte zu zeigen. Zumindest ihr gegenüber. Wera hatte die Nummer vier im Boot bekommen, und David brüllte ununterbrochen: „Vier, wach auf, Vier, schneller, Vier, halt mit.“
(Fortsetzung folgt)