Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Auch Kim Philbys letzter Interviewpartner, der britische Journalist Phillip Knightley, war der Ansicht, der Sohn habe den Vater bewundert. Schon als Kind habe er ihm unbedingt gefallen wollen.
Der Führungsoffizier der Cambridge Fünf, Yuri Modin, behauptete in seinen Memoiren ebenfalls, die Vater-Sohn-Beziehung sei gut gewesen. Modin sprach erst in Moskau mit Kim über dieses Thema und kam zu dem Schluss, dass die beiden Philbys vieles gemeinsam hätten. Auch Jack Philby habe den britischen Imperialismus abgelehnt und sei daher ein überzeugter Gegner Großbritanniens geworden. Seinem Sohn habe er eingeimpft, bis zuletzt für seine Überzeugungen einzutreten und niemals aufzugeben – ein Rat, den Kim definitiv befolgte.
Tatsächlich hattenVater und Sohn noch weitere Punkte gemeinsam – sie hassten das britische Establishment, sie hassten Moralvorstellungen, und sie interessierten sich nicht für Geld. Jack hätte mit seiner Vermittlerarbeit für amerikanische Ölkonzerne in Saudi-Arabien Millionen verdienen können, und sein Sohn hätte sich von der Sowjetunion fürstlich bezahlen lassen können. Stattdessen entwickelten beide eine bewundernswerte Verachtung für Geld – in ihren Augen war es „bourgeois“, überhaupt an so ein Thema zu denken. Dass ihre Ehefrauen und Kinder dadurch ständig in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, interessierte sie nicht. Beide Männer waren vor allem mit sich selbst beschäftigt.
Wie sein Sohn war auch der alte Philby ein Frauenheld. In mehreren Büchern wurde erwähnt, wie er kurz vor seinem fatalen Herzinfarkt auf einer Party seiner Gastgeberin einen eindeutigen Antrag machte (sie lehnte ab). Und wie sein Sohn brauchte er neben libidinöser auch ständige intellektuelle Stimulation. Seine letztenWorte auf dem Sterbebett lauteten: „Bringt mich weg, es ist langweilig hier.“
Es existierten also viele Gemeinsamkeiten, und es gab mehrere Leute, die mit Kim ausführlich über seinen Vater geredet hatten: Drei von ihnen kamen zu einem positiven Schluss und nur Arnold Deutsch zu einem negativen.
In der Sekundärliteratur fand Wera keine weiteren Antworten. Jeder Autor schien eine andere Deutung der Vater-Sohn-Beziehung zu entwickeln. Soweit sie es beurteilen konnte, sagten die Deutungen mehr über die Autoren und ihre eigenen Vaterbeziehungen aus als über die Philbys.
Kim selbst wehrte sich gegen alle Interpretationen von Psychologen und Journalisten. Die Idee, er wäre von seinem Vater stark beeinflusst worden, spielte er herunter. In seiner Autobiografie schrieb er:
„Man braucht nur wenig zu forschen, um zu sehen, dass mein Vater an allen entscheidendenWendepunkten meines Lebens Tausende von Meilen weit weg war. Hätte er etwas länger gelebt und so dieWahrheit erfahren, dann wäre er wie vom Donner gerührt gewesen, hätte es aber nicht missbilligt. Ich war vielleicht der einzige von allen Menschen, die er kannte, zu dem er nie grob war und dessen Ansichten er immer mit Respekt anhörte – selbst die über seine herrliche arabische Welt. Ich habe das nie unkritisch als Kompliment betrachtet. Es heißt – vielleicht stimmt es nicht –, dass Winston Churchill die Ansichten seines Sohns Randolph sehr ernst genommen habe.“
Diesen Seitenhieb auf die unkritische Vaterliebe von Winston Churchill fand Wera durchaus angebracht. Churchill liebte seinen Sohn Randolph, obwohl Randolph ein arroganter Alkoholiker war, der überall, wo er auftauchte, Schaden anrichtete. Kim identifizierte sich sicherlich nicht mit dem Scheusal Randolph, aber dassVaterliebe eine Form von Eigenliebe sein konnte, war für ihn offensichtlich. Trotzdem kamen Wera diese Stellen in seiner Autobiografie nicht besonders hilfreich vor.Wie in allem war Kim Philby auch hier ein Künstler der Auslassungen. Den ihrer Ansicht nach wichtigsten Punkt in seiner Vaterbeziehung erwähnte er nicht.
Der Vater war noch am Leben, als die ersten Vermutungen aufkamen, dass Kim ein Spion sein könnte. Hatte der alte Mann nach dem berühmten Fernsehinterview von 1955 seinen Sohn nie gefragt, ob er für die Sowjetunion arbeitete? Es wäre naheliegend. Die ganze Welt fragte sich, ob Kim Philby ein Verräter war, und seinVater sollte ihm diese Frage nicht gestellt haben? Und was hätte Kim ihm geantwortet? Ihn angelogen, so wie er alle anlog? Für diese Fähigkeit rühmten ihn seine russischen Betreuer, es hieß, Kim Philby würde sich nie jemandem anvertrauen. Und wahrscheinlich auch nicht seinem Vater, denn der hätte dann verstanden, dass sein Sohn ihn jahrzehntelang für seine Zwecke benutzt hatte. Damit wäre die Vater-Sohn-Beziehung beendet gewesen. Aber zu so einem Bruch kam es nie. Der Vater stand weiterhin zu seinem Sohn. Er half ihm sogar nach dem Skandal 1955, neue Kontakte im Nahen Osten aufzubauen. Er stellte ihm wichtige Leute vor, unter anderem den Präsidenten des Libanon. Über all diese Leute berichtete Kim nach Moskau.
Wera fragte sich, ob Hunt das gemeint hatte. Waren es der geheime Hass auf den Vater und die Verehrung für Arnold Deutsch, die Kim zu dem gemacht hatten, was er war?
November Cambridge
Hinter jedem guten Spion steht jemand, der ihn dazu gemacht hat. Dieser Mann oder diese Frau sind Talentsucher, immer auf der Ausschau nach neuem Menschenmaterial. Ein Talentsucher sollte vor allem ein gutes Gespür für menschliche Abgründe haben. Der Abgrund muss möglichst tief sein, denn es gilt, Irrtümer zu vermeiden. Ein Fehler bei der Talentauswahl kann weitreichende Folgen haben. Rekrutiert der Talentsucher jemanden, der der Aufgabe nicht gewachsen ist, gefährdet er damit die gesamte Operation. Sie war sehr früh einem Talentsucher aufgefallen, genau wie Kim Philby vor vielen Jahrzehnten Arnold Deutsch aufgefallen war. Natürlich konnte man ihren Entdecker nicht mit Arnold Deutsch vergleichen. Deutsch war eine Ausnahmefigur gewesen. Aber auch sie hatte viel von ihrem Führungsoffizier gelernt. Die erste Lektion war es gewesen, dass man alles daransetzen musste, in entscheidenden Situationen übersehen zu werden. Keine teure Kleidung, keine besonderen Auffälligkeiten, einfach in der Menge untergehen. Die perfekte Mimikry.
(Fortsetzung folgt)