Das Problem mit der Moral
ANALYSE Der Westen ist schockiert angesichts des brutalen russischen Überfalls auf die Ukraine. Die Kriegsgräuel verstärken diese Haltung. Doch viel mehr, als mit begrenzter Militärhilfe zu reagieren, ist kaum möglich.
Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit – und die Deutschen schauen von außen zu. Versagen wir in dieser historischen Konfrontation, weil wir nicht bereit sind, für die geschundenen Menschen in der Ukraine mehr zu riskieren, unseren Wohlstand einzusetzen und sogar einen direkten Konflikt mit dem mächtigen Russland zu wagen? Die Bilder der vermutlich von russischen Truppen begangenen Massaker in Butscha und anderen Vororten von Kiew verstärken diesen Eindruck.
Deutschland zagt und zaudert. Bislang hat die Bundesregierung bis zum 7. März gerade einmal für gut 30 Millionen Euro Waffen (das ist die letzte offizielle Zahl) nach Kiew geliefert. Zudem gibt es eine Angebotsliste mit Militärgütern, die 210 Positionen im Wert von 300 Millionen Euro umfasst. Für die deutsche Sicherheitspolitik war das eine mittlere Revolution, weil Rüstungsexporte in Konfliktgebiete eigentlich streng untersagt sind. Für die Ukraine ist es bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Kampf mit dem übermächtigen Nachbarn ist die Hilfe lediglich von symbolischer Bedeutung.
Auch an der Sanktionsfront sind es vor allem die Deutschen, die bremsen. So will Bundeskanzler Olaf Scholz nicht auf die Gaslieferungen aus Russland verzichten, um kein Chaos in der Industrie und bei den Verbrauchern auszulösen. Und peinlich genau achtet die Ampelkoalition darauf, jede mögliche Schwelle eines militärischen Konflikts mit Moskau nicht zu überschreiten.
So hart es ist: Die Ukraine ist beim Kampf um ihr Wohlergehen, ihre Freiheit, ihr nacktes Überleben auf sich allein gestellt. Der Einsatz für die Werte des Westens – Freiheit der Bürger, Wohlstand für alle, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – stand und steht nicht unbedingt im Mittelpunkt der deutschen Außenpolitik. Die neue Bundesaußenministerin Annalena Baerbock löste geradezu Verblüffung aus, als sie in Moskau ihrem erfahrenen und ausgebufften russischen Amtskollegen Sergej Lawrow eine Nachhilfestunde in Sachen Völkerrecht und nationaler Selbstbestimmung gab.
Doch auch Baerbock schließt eine weitergehende militärische Unterstützung der Ukraine, die Errichtung einer Flugverbotszone oder auch nur ein Verzicht auf das für die deutsche Wirtschaft derzeit noch lebenswichtige russische Gas aus. Die Deutschen konzentrieren sich lieber auf Wirtschaftshilfe für die Ukraine und die großzügige Aufnahme der Geflüchteten. Das ist sehr viel, einerseits. Im Sinne einer umfassenden Moral aber, den Schwachen gegen aggressive Stärkere beizustehen, ist es zu wenig.
Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Zu Recht wirft Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Frage auf: „Was ist der Preis dafür?“Tatsächlich hat Kreml-Herrscher Wladimir Putin klargemacht, dass er den Konflikt um die Ukraine beliebig eskalieren kann. Er entfesselt Cyberangriffe, lässt russische Flugzeuge in NatoHoheitsgebiet eindringen – und droht sogar indirekt mit Atomwaffen. All das muss und wird der Westen ernst nehmen. Putin meint, was er sagt; Illusionen um ein mögliches Einlenken sind hier fehl am Platz.
Es ist ungerecht: Die Ukrainer verteidigen in gewisser Weise unsere Freiheit, und wir können ihnen nicht ausreichend helfen, weil die Folgen eines direkten Konflikts unabsehbar wären. Da helfen auch die jüngsten Erfolge des Landes gegen den Aggressor nicht. Es ist eben die Logik der weltweit größten Atommacht, dass sie im Fall von Misserfolgen immer noch andere, noch fürchterlichere Waffen einsetzen kann.
Hier kommt die Realpolitik ins Spiel. Sind die Kosten des Krieges für Putin deutlich höher, als er erwartet hat, gerät er selbst unter Druck. Die Geheimdienste, die Militärs, die Wirtschaftsführer, die er derzeit noch ohne großen Widerstand beherrscht, werden ins Nachdenken kommen. Das ist bislang noch Theorie. Aber der Westen kann es für sich ausnutzen, indem er den Druck erhöht, ohne militärisch oder mit einem TotalEmbargo zugunsten der bedrängten Ukrainer einzugreifen.
Angesichts der vielen zivilen und militärischen Opfer des Landes mag man dieses Vorgehen als zynisch und hartherzig empfinden. Es ist aber zugleich die Chance, den Konflikt einzudämmen und den Preis für Putin und seine Unterstützer in der russischen Elite hochzutreiben. Eine Politik des Beistands und der unbedingten Verteidigung universeller Menschenrechte ist dazu leider nicht in der Lage. Sie würde die Entschlossenheit Putins und seiner Clique eher erhöhen. Denn die würde im Falle einer Niederlage alles verlieren.
Der Westen kommt also nicht umhin, trotz aller moralischer Bedenken die Militärhilfe in Grenzen zu halten und eben keine rote Linien zu definieren, die Putin bloß verraten würden, wie weit er gehen kann. Sollten die Vereinigten Staaten ankündigen, mit Atomwaffen auf einen nuklearen Schlag Russlands gegen die Ukraine zu reagieren, könnte das genau der Beginn eines solchen Schlagabtausches sein. Denn Putin könnte aus Furcht vor einem totalen Machtverlust dieses letzte Mittel einsetzen. Es ist also besser, wenn der Westen zwar alle Szenarien durchspielt, aber bewusst im Ungefähren bleibt, sosehr sich die Ukrainer mehr wünschen.
Natürlich hat ein solcher Ansatz auch Grenzen. Ein ungleicher Krieg findet in unserer Nachbarschaft statt. Und ehrlicherweise muss man zugeben, dass wir ratlos und eingeschüchtert sind – egal ob wir nun der Realpolitik oder der Moral den Vorrang geben.