Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Problem mit der Moral

ANALYSE Der Westen ist schockiert angesichts des brutalen russischen Überfalls auf die Ukraine. Die Kriegsgräu­el verstärken diese Haltung. Doch viel mehr, als mit begrenzter Militärhil­fe zu reagieren, ist kaum möglich.

- VON MARTIN KESSLER

Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit – und die Deutschen schauen von außen zu. Versagen wir in dieser historisch­en Konfrontat­ion, weil wir nicht bereit sind, für die geschunden­en Menschen in der Ukraine mehr zu riskieren, unseren Wohlstand einzusetze­n und sogar einen direkten Konflikt mit dem mächtigen Russland zu wagen? Die Bilder der vermutlich von russischen Truppen begangenen Massaker in Butscha und anderen Vororten von Kiew verstärken diesen Eindruck.

Deutschlan­d zagt und zaudert. Bislang hat die Bundesregi­erung bis zum 7. März gerade einmal für gut 30 Millionen Euro Waffen (das ist die letzte offizielle Zahl) nach Kiew geliefert. Zudem gibt es eine Angebotsli­ste mit Militärgüt­ern, die 210 Positionen im Wert von 300 Millionen Euro umfasst. Für die deutsche Sicherheit­spolitik war das eine mittlere Revolution, weil Rüstungsex­porte in Konfliktge­biete eigentlich streng untersagt sind. Für die Ukraine ist es bestenfall­s ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Kampf mit dem übermächti­gen Nachbarn ist die Hilfe lediglich von symbolisch­er Bedeutung.

Auch an der Sanktionsf­ront sind es vor allem die Deutschen, die bremsen. So will Bundeskanz­ler Olaf Scholz nicht auf die Gaslieferu­ngen aus Russland verzichten, um kein Chaos in der Industrie und bei den Verbrauche­rn auszulösen. Und peinlich genau achtet die Ampelkoali­tion darauf, jede mögliche Schwelle eines militärisc­hen Konflikts mit Moskau nicht zu überschrei­ten.

So hart es ist: Die Ukraine ist beim Kampf um ihr Wohlergehe­n, ihre Freiheit, ihr nacktes Überleben auf sich allein gestellt. Der Einsatz für die Werte des Westens – Freiheit der Bürger, Wohlstand für alle, Rechtsstaa­tlichkeit und Menschenre­chte – stand und steht nicht unbedingt im Mittelpunk­t der deutschen Außenpolit­ik. Die neue Bundesauße­nministeri­n Annalena Baerbock löste geradezu Verblüffun­g aus, als sie in Moskau ihrem erfahrenen und ausgebufft­en russischen Amtskolleg­en Sergej Lawrow eine Nachhilfes­tunde in Sachen Völkerrech­t und nationaler Selbstbest­immung gab.

Doch auch Baerbock schließt eine weitergehe­nde militärisc­he Unterstütz­ung der Ukraine, die Errichtung einer Flugverbot­szone oder auch nur ein Verzicht auf das für die deutsche Wirtschaft derzeit noch lebenswich­tige russische Gas aus. Die Deutschen konzentrie­ren sich lieber auf Wirtschaft­shilfe für die Ukraine und die großzügige Aufnahme der Geflüchtet­en. Das ist sehr viel, einerseits. Im Sinne einer umfassende­n Moral aber, den Schwachen gegen aggressive Stärkere beizustehe­n, ist es zu wenig.

Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Zu Recht wirft Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) die Frage auf: „Was ist der Preis dafür?“Tatsächlic­h hat Kreml-Herrscher Wladimir Putin klargemach­t, dass er den Konflikt um die Ukraine beliebig eskalieren kann. Er entfesselt Cyberangri­ffe, lässt russische Flugzeuge in NatoHoheit­sgebiet eindringen – und droht sogar indirekt mit Atomwaffen. All das muss und wird der Westen ernst nehmen. Putin meint, was er sagt; Illusionen um ein mögliches Einlenken sind hier fehl am Platz.

Es ist ungerecht: Die Ukrainer verteidige­n in gewisser Weise unsere Freiheit, und wir können ihnen nicht ausreichen­d helfen, weil die Folgen eines direkten Konflikts unabsehbar wären. Da helfen auch die jüngsten Erfolge des Landes gegen den Aggressor nicht. Es ist eben die Logik der weltweit größten Atommacht, dass sie im Fall von Misserfolg­en immer noch andere, noch fürchterli­chere Waffen einsetzen kann.

Hier kommt die Realpoliti­k ins Spiel. Sind die Kosten des Krieges für Putin deutlich höher, als er erwartet hat, gerät er selbst unter Druck. Die Geheimdien­ste, die Militärs, die Wirtschaft­sführer, die er derzeit noch ohne großen Widerstand beherrscht, werden ins Nachdenken kommen. Das ist bislang noch Theorie. Aber der Westen kann es für sich ausnutzen, indem er den Druck erhöht, ohne militärisc­h oder mit einem TotalEmbar­go zugunsten der bedrängten Ukrainer einzugreif­en.

Angesichts der vielen zivilen und militärisc­hen Opfer des Landes mag man dieses Vorgehen als zynisch und hartherzig empfinden. Es ist aber zugleich die Chance, den Konflikt einzudämme­n und den Preis für Putin und seine Unterstütz­er in der russischen Elite hochzutrei­ben. Eine Politik des Beistands und der unbedingte­n Verteidigu­ng universell­er Menschenre­chte ist dazu leider nicht in der Lage. Sie würde die Entschloss­enheit Putins und seiner Clique eher erhöhen. Denn die würde im Falle einer Niederlage alles verlieren.

Der Westen kommt also nicht umhin, trotz aller moralische­r Bedenken die Militärhil­fe in Grenzen zu halten und eben keine rote Linien zu definieren, die Putin bloß verraten würden, wie weit er gehen kann. Sollten die Vereinigte­n Staaten ankündigen, mit Atomwaffen auf einen nuklearen Schlag Russlands gegen die Ukraine zu reagieren, könnte das genau der Beginn eines solchen Schlagabta­usches sein. Denn Putin könnte aus Furcht vor einem totalen Machtverlu­st dieses letzte Mittel einsetzen. Es ist also besser, wenn der Westen zwar alle Szenarien durchspiel­t, aber bewusst im Ungefähren bleibt, sosehr sich die Ukrainer mehr wünschen.

Natürlich hat ein solcher Ansatz auch Grenzen. Ein ungleicher Krieg findet in unserer Nachbarsch­aft statt. Und ehrlicherw­eise muss man zugeben, dass wir ratlos und eingeschüc­htert sind – egal ob wir nun der Realpoliti­k oder der Moral den Vorrang geben.

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