Falsche Behauptungen aus Moskau
Eine Recherche widerspricht russischen Aussagen zu den zivilen Toten in Butscha. Der Ex-Präsident rechnet mit einem längeren Krieg.
BRÜSSEL/KIEW/BUTSCHA (dpa/rtr) EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird diese Woche für ein Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach Kiew reisen. Sie werde begleitet vom EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, teilte ihr Sprecher am Dienstag auf Twitter mit. Das Treffen werde vor der für Samstag in Warschau geplanten Geberkonferenz stattfinden, bei der Geld für die Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen des Ukraine-Kriegs gesammelt werden soll.
Die Bilder aus dem Kiewer Vorort Butscha mit Leichen auf den Straßen lösen derweil international weiter Entsetzen aus. Doch die russische Seite versucht, in den sozialen Netzwerken Zweifel an der Echtheit der Aufnahmen zu säen. Die Ukraine zählt im Gebiet rund um die Hauptstadt mehr als 400 tote Zivilisten und macht dafür die kürzlich abgezogenen russischen Truppen verantwortlich. Moskau bestreitet das und spricht von einer „Fälschung“. Die Deutsche Presseagentur hat die Behauptungen einem Faktencheck unterzogen.
Die Behauptung, dass es sich bei den Leichen auf Bildern um lebendige Menschen handeln soll, ist demnach falsch. Die Agentur stellt dazu fest: Die Bilder aus Butscha gehen seit dem Wochenende um die Welt. Bereits am Sonntag reagierte das Verteidigungsministerium in Moskau und deutete auf Telegram an, die Aufnahmen könnten gefälscht sein. Dazu wurde ein mittlerweile in sozialen Netzwerken weitverbreitetes Video veröffentlicht, das das Verteidigungsministerium im Beitragstext als „verwirrend“bezeichnet. Die Gründe demnach: Eine Leiche bewege darin ihren Arm. Später richte sich ein Leichnam auf, was der Blick in den Rückspiegel des Autos bei der Aufnahme verrate.
Das verbreitete Video zeigt eine Fahrt durch die Jablunska-Straße des Kiewer Vororts Butscha, in der viele Leichen zu sehen sind. Das Szenario ist besser in einer vollständigen Version der Aufnahme erkennbar, die vom ukrainischen Verteidigungsministerium verbreitet wurde. Darin ist bei höherer
Auflösung zu sehen, dass es sich bei der angeblichen Hand um einen Wassertropfen handelt. Durch den Fahrtwind bewegt sich dieser Tropfen auf der Windschutzscheibe nach oben. In weiteren Aufnahmen der Jablunska-Straße liegt der Leichnam zudem immer an derselben Stelle. Am wechselnden Wetter ist erkennbar, dass alle Aufnahmen zu unterschiedlichen Tageszeiten entstanden sein müssen.
Später im Video soll sich eine Leiche wieder aufrichten. Das sei im Rückspiegel zu sehen, nachdem das Auto weitergefahren sei, schreibt das Moskauer Verteidigungsministerium. In den sozialen Netzwerken behaupten Nutzer sogar, die Leiche mit der angeblich gehobenen Hand und der sich Aufrichtende seien identisch. Es handelt sich aber nicht um denselben Toten.
Im vollständigen, ungeschnittenen Video wird das deutlich, da der Rückspiegel-Blick erst 40 Sekunden nach der vermeintlichen Handbewegung kommt. Das Auto ist in der Zeit etwa 100 Meter weitergefahren. Neben unterschiedlicher Kleidung zeigt ein weiteres von unabhängigen Medien aufgenommenes Video zudem, dass die beiden Leichen an unterschiedlichen Positionen liegen.
Ein Aufrichten ist im besser aufgelösten Video des ukrainischen Verteidigungsministeriums auch bei verlangsamter Wiedergabe nicht zu erkennen. Der Eindruck entsteht vermutlich nur, weil die meisten Außenspiegel eine Krümmung haben, um das Blickfeld zu vergrößern. Die
Leiche gerät bei der Fahrt ins Zentrum des Rückspiegels.
Die russische Medienaufsicht forderte von der Online-Enzyklopädie Wikipedia die Löschung von Angaben zum Krieg in der Ukraine. Wikipedia veröffentliche falsche Informationen, teilt die Behörde mit. „Material mit ungenauen Informationen von öffentlichem Interesse“über die Situation in der Ukraine müsse entfernt werden. Andernfalls drohe eine Geldstrafe von bis zu vier Millionen Rubel (rund 44.000 Euro).
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat dem UN-Sicherheitsrat unterdessen im Ukraine-Krieg Versagen vorgeworfen. „Wo ist der Sicherheitsrat?“, fragte der per Video zugeschaltete Selenskyj am Dienstag vor dem Gremium in New York. „Es ist offensichtlich, dass die zentrale Institution der Welt zum Schutz von Frieden nicht effektiv arbeiten kann.“Entscheidungen des Sicherheitsrats seien aber für den Frieden in der Ukraine notwendig, sagte Selenskyj weiter. Er schlage deswegen drei mögliche Lösungen vor: den Beweis, dass Reform oder Veränderung möglich seien, den Ausschluss von Russland, das als ständiges Mitglied jede Entscheidung blockieren kann, oder die komplette Auflösung des Rates. Auch die gesamten Vereinten Nationen bräuchten Veränderung, sagte Selenskyj weiter. Er schlug dafür unter anderem eine große „globale Konferenz“in Kiew vor. „Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um der nächsten Generation eine effektive UN zu übergeben.“
Der frühere russische Staatschef Dmitri Medwedew stimmt derweil sein Land auf einen längeren Kampf gegen die Ukraine ein. Präsident Wladimir Putin habe als Ziel die „Demilitarisierung und Entnazifizierung“der Ukraine ausgegeben, schrieb Medwedew am Dienstag auf seinem Telegram-Kanal. „Diese schwierigen Aufgaben sind nicht auf die Schnelle zu erfüllen.“Noch schärfer als Putin in seinen öffentlichen Äußerungen setzte Medwedew die Ukraine mit dem nationalsozialistischen Deutschland gleich. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Ukraine das gleiche Schicksal erleiden würde wie das „Dritte Reich“, schrieb er. Aber der Zusammenbruch könne den Weg für „ein offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“öffnen. Russland lehnt nach Angaben der Regierung zwar ein direktes Treffen zwischen Putin und Selenskyj nicht ab. Allerdings könne dies erst geschehen, wenn man sich auf ein Abkommen geeignet habe, erklärte Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow.