Symptom für eine andere Welt
Wenn ein vermeintlich schwaches Land von einer gewaltigen Militärmaschine von Norden, Osten und Süden, zu Land, aus der Luft und von der See aus überrollt wird, dann liegt die Erwartung nahe, dass die Luftabwehr binnen Stunden und der militärische Widerstand an Land binnen Tagen zusammengebrochen sein wird. An diesem Donnerstag tobt der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine indes schon seit acht Wochen. Und es gibt erste Stimmen, die mit weiteren Monaten rechnen.
Das erklärt manche Reaktionen in der deutschen Debatte. Das erschreckte Hinschauen am 24. Februar war verbunden mit der Erwartung, dass es nach einer Woche vorbei sein würde. Es war verknüpft auch mit der Ahnung, den Ukrainern dann humanitär zu helfen und den verbalen Protest gegen das russische Vorgehen scharf zu formulieren, während sich ringsumher das Leben rasch wieder normalisieren möge. Stattdessen strapaziert dieser Krieg die Nerven mit ständig neuen Bildern von Kriegsverbrechen. Sie wecken den Wunsch, sie aus der Wahrnehmung zu verbannen. Gleichzeitig soll das Sterben und Leiden irgendwie von selbst enden. Hauptsache bald.
Für die Menschen in der Ukraine geht es nicht um ein abstraktes Schlachtfeld. Für sie geht um den sehr konkreten Unterschied zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Verwundung, Selbst- und Fremdbestimmung, Freiheit und Unterdrückung. Vor allem verstehen viele Ukrainer nicht, warum so viele Deutsche nicht erkennen können oder wollen, dass das Abstrakte perspektivisch auch für sie sehr konkret werden kann. In den staatlich gelenkten Medien Russlands wird längst darüber diskutiert, wann nach dem Sieg gegen die Ukraine auch Moldau, das Baltikum und Polen an der Reihe sein sollen und wann man wieder am Brandenburger Tor steht.
Jede schwere Waffe, die Deutschland zurückhält, schwächt nicht nur die mögliche Widerstandsfähigkeit der Ukraine. Sie nicht zu liefern, macht auch Deutschland verwundbarer. Denn damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass der Krieg immer näher rückt. Mit jedem Tag, an dem wegen Deutschlands Haltung aus den europäischen Staaten dreistellige Millionensummen für Öl und Gas in die russische Kriegsmaschine gepumpt werden, zeigt sich zudem ein anderer fataler Befund. Das „Nie wieder“ist eine Chiffre für Sonntagsreden geblieben. Es ist kein Handlungsvorsatz für Situationen geworden, in denen es auf Deutschlands entschiedene Haltung ankommt. Appeasement war das falsche Rezept für den Umgang mit Hitlers militärischer Aggression. Und Appelle zu Verhandlungen haben Hitlers Krieg nicht beendet.
Doch selbst diese erweiterte Sicht auf acht Wochen Krieg und Deutschlands Reaktionen darauf erfasst das Gesamtgeschehen nur unzureichend. Es wird Zeit, die Wahrnehmung mehr zu weiten. Auf die Welt, die so ganz anders geworden ist, als sie sich 1990 zu entwickeln schien. Die damalige Erwartung: Alles würde nun demokratischer, friedlicher, globalisierter, fairer. Tatsächlich schrumpft die Zahl der Demokratien in der Welt, wächst die Zahl autokratischer Systeme, die jederzeit die innere Unterdrückung in äußere Aggression verwandeln können und diese wieder zum Vorwand nehmen, um im Innern einen totalitären Weg zu verfolgen. Längst bereitet China seine Bevölkerung auf einen Krieg mit den USA vor. Peking wie Moskau blicken mit Verachtung auf demokratische Systeme westlicher Prägung, haben die auf Verständigung ausgerichtete Weltordnung ausgehöhlt und durch ein System von Einfluss ersetzt, mit dem sie fast auf Knopfdruck auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Afrika Eskalationen der Gewalt auslösen können.
Dass in dieser Situation globalisierte Warenströme leicht kollabieren und damit Wohlstandsgewohnheiten ins Wanken bringen, trägt zum Wachsen von Nationalegoismus bei. Die unguten Gefühle beim Blick auf Frankreich an diesem Sonntag und auf die USA in 31 Monaten machen nur noch deutlicher, wie wichtig jetzt verantwortliches Handeln Deutschlands wäre.