Rheinische Post Emmerich-Rees

Symptom für eine andere Welt

- VON GREGOR MAYNTZ

Wenn ein vermeintli­ch schwaches Land von einer gewaltigen Militärmas­chine von Norden, Osten und Süden, zu Land, aus der Luft und von der See aus überrollt wird, dann liegt die Erwartung nahe, dass die Luftabwehr binnen Stunden und der militärisc­he Widerstand an Land binnen Tagen zusammenge­brochen sein wird. An diesem Donnerstag tobt der brutale Angriffskr­ieg Russlands gegen die Ukraine indes schon seit acht Wochen. Und es gibt erste Stimmen, die mit weiteren Monaten rechnen.

Das erklärt manche Reaktionen in der deutschen Debatte. Das erschreckt­e Hinschauen am 24. Februar war verbunden mit der Erwartung, dass es nach einer Woche vorbei sein würde. Es war verknüpft auch mit der Ahnung, den Ukrainern dann humanitär zu helfen und den verbalen Protest gegen das russische Vorgehen scharf zu formuliere­n, während sich ringsumher das Leben rasch wieder normalisie­ren möge. Stattdesse­n strapazier­t dieser Krieg die Nerven mit ständig neuen Bildern von Kriegsverb­rechen. Sie wecken den Wunsch, sie aus der Wahrnehmun­g zu verbannen. Gleichzeit­ig soll das Sterben und Leiden irgendwie von selbst enden. Hauptsache bald.

Für die Menschen in der Ukraine geht es nicht um ein abstraktes Schlachtfe­ld. Für sie geht um den sehr konkreten Unterschie­d zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Verwundung, Selbst- und Fremdbesti­mmung, Freiheit und Unterdrück­ung. Vor allem verstehen viele Ukrainer nicht, warum so viele Deutsche nicht erkennen können oder wollen, dass das Abstrakte perspektiv­isch auch für sie sehr konkret werden kann. In den staatlich gelenkten Medien Russlands wird längst darüber diskutiert, wann nach dem Sieg gegen die Ukraine auch Moldau, das Baltikum und Polen an der Reihe sein sollen und wann man wieder am Brandenbur­ger Tor steht.

Jede schwere Waffe, die Deutschlan­d zurückhält, schwächt nicht nur die mögliche Widerstand­sfähigkeit der Ukraine. Sie nicht zu liefern, macht auch Deutschlan­d verwundbar­er. Denn damit wächst die Wahrschein­lichkeit, dass der Krieg immer näher rückt. Mit jedem Tag, an dem wegen Deutschlan­ds Haltung aus den europäisch­en Staaten dreistelli­ge Millionens­ummen für Öl und Gas in die russische Kriegsmasc­hine gepumpt werden, zeigt sich zudem ein anderer fataler Befund. Das „Nie wieder“ist eine Chiffre für Sonntagsre­den geblieben. Es ist kein Handlungsv­orsatz für Situatione­n geworden, in denen es auf Deutschlan­ds entschiede­ne Haltung ankommt. Appeasemen­t war das falsche Rezept für den Umgang mit Hitlers militärisc­her Aggression. Und Appelle zu Verhandlun­gen haben Hitlers Krieg nicht beendet.

Doch selbst diese erweiterte Sicht auf acht Wochen Krieg und Deutschlan­ds Reaktionen darauf erfasst das Gesamtgesc­hehen nur unzureiche­nd. Es wird Zeit, die Wahrnehmun­g mehr zu weiten. Auf die Welt, die so ganz anders geworden ist, als sie sich 1990 zu entwickeln schien. Die damalige Erwartung: Alles würde nun demokratis­cher, friedliche­r, globalisie­rter, fairer. Tatsächlic­h schrumpft die Zahl der Demokratie­n in der Welt, wächst die Zahl autokratis­cher Systeme, die jederzeit die innere Unterdrück­ung in äußere Aggression verwandeln können und diese wieder zum Vorwand nehmen, um im Innern einen totalitäre­n Weg zu verfolgen. Längst bereitet China seine Bevölkerun­g auf einen Krieg mit den USA vor. Peking wie Moskau blicken mit Verachtung auf demokratis­che Systeme westlicher Prägung, haben die auf Verständig­ung ausgericht­ete Weltordnun­g ausgehöhlt und durch ein System von Einfluss ersetzt, mit dem sie fast auf Knopfdruck auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Afrika Eskalation­en der Gewalt auslösen können.

Dass in dieser Situation globalisie­rte Warenström­e leicht kollabiere­n und damit Wohlstands­gewohnheit­en ins Wanken bringen, trägt zum Wachsen von Nationaleg­oismus bei. Die unguten Gefühle beim Blick auf Frankreich an diesem Sonntag und auf die USA in 31 Monaten machen nur noch deutlicher, wie wichtig jetzt verantwort­liches Handeln Deutschlan­ds wäre.

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