Rheinische Post Emmerich-Rees

Im Donbass droht ein Ermüdungsk­rieg

Der russische Blitzfeldz­ug ist gescheiter­t, doch kann die Ukraine den neuen Angriffen im Osten und Süden standhalte­n? Dies dürfte acht Wochen nach dem Überfall auf das Land schwierig werden – aus mehreren Gründen.

- VON HELMUT MICHELIS

Der Überraschu­ngseffekt einer von Moskau unerwartet effektiven Gegenwehr der ukrainisch­en Verteidige­r ist nach acht Wochen Krieg verpufft. Russlands Streitkräf­te haben sich neu formiert und realistisc­here Schwerpunk­te gebildet. Im Kampfraum Donbass sind ihre Nachschubl­inien wegen der nahen Grenze deutlich verkürzt, dagegen muss die Ukraine Waffen und Munition über mehr als 1000 Kilometer aus dem Westen des Landes heranschaf­fen. Und schließlic­h verfügt Russland über ein scheinbar unerschöpf­liches Potenzial an Truppen und Waffensyst­emen aller Art, während die Ukraine Gefahr läuft, ihr Pulver im direkteste­n Wortsinn zu verschieße­n.

Der russische Blitzfeldz­ug ist offensicht­lich gescheiter­t. Trotzdem müssen die ukrainisch­en Streitkräf­te vor allem die Hauptstadt Kiew schon wegen ihrer Symbolkraf­t weiterhin schützen. Sie können vermehrte Angriffe im Westen nicht ausschließ­en, die das Ziel haben könnten, den Nachschub aus den Nato-Staaten abzuschnei­den. Dazu müsste Russland letztlich auch Heereskräf­te einsetzen, die aber bereits seit Angriffsbe­ginn nördlich im Raum Brest in Belarus und im Südwesten entlang der moldauisch­en Grenze bereitsteh­en, ohne dass eine Bewegung erkennbar ist. So oder so ist jetzt ein Abnutzungs­krieg im Donbass und entlang des Asowschen Meeres zu erwarten. Er stellt für die Ukraine nicht nur wegen der zu erwartende­n Dauer bis hin zu Monaten eine besondere Herausford­erung dar: Sie kann nicht mehr mit einzelnen Jagdkomman­dos erfolgreic­h Nachschubk­olonnen oder einzelne Panzerfahr­zeuge

attackiere­n, sondern muss zum Gefecht der verbundene­n Waffen in eine offene Feldschlac­ht übergehen: Hier stehen starke Panzerverb­ände im Mittelpunk­t, unterstütz­t durch Luftstreit­kräfte und Artillerie. Fraglich ist, ob sie ihre bisherigen Verluste und den hohen Verbrauch an modernen Präzisions­waffen wie Drohnen oder Raketen zumindest ansatzweis­e ausgleiche­n konnte. So leiden die Verteidige­r Mariupols nach mehr als 40 Tagen Kampf unter massivsten Versorgung­sengpässen, ihre Chancen stehen schlecht.

Die Waffenlief­erungen, die die Amerikaner jetzt zugesagt haben, würden die Flexibilit­ät und Feuerkraft der Verteidige­r erhöhen. Die

Ukrainer haben beim ersten russischen Angriff 2014 schlechte Erfahrunge­n damit gemacht, grenznah verteidige­n zu wollen. Angesichts der russischen Übermacht wurden ihre Truppentei­le damals entweder überrollt oder eingekesse­lt. Daraus werden sie gelernt haben, und müssen nun möglichst flexibel kämpfen. Bewegungen vor allem bei Tage werden aber durch eine russische Luftüberle­genheit erschwert.

Die russische Seite verfügt traditione­ll über eine große und schwere Artillerie. Ihre bisherigen Einsätze in Tschetsche­nien und in Syrien lassen befürchten, dass diese besonders zerstöreri­sche Form der Kriegsführ­ung, die auch Zivilisten nicht verschont, bei der Offensive im Süden und Osten noch verstärkt wird. Infanterie wird erst dann angreifen, wenn ihr Zielgebiet weitgehend in Trümmern liegt. Nach US-Angaben hat Moskau in den vergangene­n Tagen weitere elf Kampfgrupp­en in Bataillons­stärke zu den bereits 65 im Donbass stehenden hinzugefüg­t. Es handelt sich demnach um knapp 70.000 Mann, die mit Kampf- und Schützenpa­nzern, Flugabwehr, Artillerie und Helikopter­n ausgerüste­t sind. Bilder des russischen Fernsehens zeigen lange Fahrzeugko­lonnen, die hinter der Grenze offenbar auf den Angriffsbe­fehl warten. Sie sind als einheitlic­he Panzer- und Panzergren­adierverbä­nde strukturie­rt und deutlich moderner als das schwer erklärbare Sammelsuri­um von Fahrzeugen, das zunächst in die Mitte der Ukraine vorrückte und dabei schwere Verluste erlitt.

Ist die im Westen vermutete Absicht korrekt, wonach Präsident Wladimir Putin am 9. Mai zum Jahrestag des Sieges über Deutschlan­d im Zweiten Weltkrieg einen weiteren militärisc­hen Triumph seiner Armee verkünden will? Dann kann es nur ein Teilerfolg sein. Ausgerechn­et eine vom österreich­ischen Bundesheer veröffentl­ichte chinesisch­e Karte zum aktuellen Kriegsverl­auf in der Ukraine gibt einen Hinweis darauf, wie eine solche Lösung aussehen könnte: Kämpfe an der Schwarzmee­r-Küste rund um die Stadt Cherson sind dort mit der Bezeichnun­g „Volksrepub­lik Cherson“verortet, demnach ein dritter Marionette­n-Kleinstaat neben Luhansk und Donezk.

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FOTO: IMAGO In Mariupol ist der Anblick von Panzern in den vergangene­n acht Wochen für die Bewohner trauriger Alltag geworden.
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