In Mariupol schwindet die Hoffnung
Tausende Menschen sollten die Hafenstadt noch am Mittwoch verlassen können.
MARIUPOL/KIEW/MOSKAU/GENF (ap/dpa/rtr) Die Ukraine hatte am Mittwoch geplant, 6000 Frauen, Kinder und ältere Menschen aus dem eingeschlossenen Mariupol herauszubringen. Dazu sollten 90 Busse nach Mariupol geschickt werden, sagt Bürgermeister Wadym Boischenko, der selbst die Stadt verlassen hat. Am Nachmittag brachen die ersten Busse von einem ausgewiesenen Evakuierungspunkt aus auf. Am Abend war die Lage jedoch unklar: Die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iryna Weretschschuk warf dem russischen Militär vor, sich nicht an die für die Evakuierung der Zivilisten vereinbarte Feuerpause gehalten zu haben. Zudem wären Busse der Russen nicht zu den vereinbarten Zeiten an den Übergabe-Stellen erschienen. Es befänden sich noch etwa 100.000 Zivilisten in der südostukrainischen Hafenstadt am Asowschen Meer, hieß es am Abend. Zehntausende seien bei der Belagerung durch russische Truppen ums Leben gekommen.
Die Lage in Mariupol ist seit Wochen dramatisch. Der Kommandeur der verbliebenen Marineinfanteristen, Serhij Wolyna, hat am Mittwoch um Evakuierung in einen Drittstaat gebeten und damit erstmals angedeutet, aufgeben zu wollen. Bisher hatten die Ukrainer dies abgelehnt. „Der Feind ist uns zehn zu eins überlegen“, sagte er. Russland hat seine Luftangriffe unvermindert fortgesetzt. Besorgnis löste im Westen zudem die Meldung Russlands aus, einen ersten, erfolgreichen Test seiner atomwaffenfähigen ballistischen Interkontinentalrakete vom Typ Sarmat durchgeführt zu haben. Die Rakete sei am Mittwoch vom Kosmodrom Plessezk im Norden Russlands abgeschossen worden, teilte das Verteidigungsministerium mit. Bei Sarmat handelt es sich um eine schwere Rakete, die die aus SowjetProduktion stammende Rakete vom Typ Wojewoda ersetzen soll, die im Westen unter dem Codenamen Satan firmierte. Kremlchef Wladimir Putin pries die neue Waffe als einzigartig. Gleichzeitig hat Russland laut Kremlsprecher Dmitri Peskow dem angegriffenen Nachbarland schriftlich neue Verhandlungen angeboten. Angaben zum Inhalt machte er nicht. Wann es neue Gespräche geben könnte, ist ebenfalls noch offen. Peskow erklärte, nun sei „der Ball auf der Seite“der Ukrainer.
Kiew meldete einen massiven russischen Truppenaufmarsch im Osten des Landes. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs blieben russische Versuche erfolglos, die Städte Rubischne und Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk zu stürmen. Schwere Gefechte habe es um Marjinka, Popasna, Torske, Selena Dolyna und Kreminna gegeben.
Nach Angaben eines führenden ukrainischen Abgeordneten hat Russland seit Kriegsbeginn rund 500.000 Menschen aus der Ukraine verschleppt, „ohne dass sie dem zugestimmt hätten“, wie Mykyta Poturajew, der dem Ausschuss für humanitäre Fragen des Parlaments in Kiew vorsitzt, vor dem Europäischen Parlament in einer Videoschaltung sagte. Er forderte das Rote Kreuz auf, mit diesen Menschen Kontakt aufzunehmen.
Seit Beginn der russischen Invasion vor acht Wochen sind nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als fünf Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen.