Im Schatten der Gefahr
Für chronisch Kranke und ihr Umfeld bringt die Pandemie eine ständige Angst vor dem Tod mit sich. Drei Betroffene berichten.
DORTMUND/KÖLN Seit es Corona gibt, verzichtet Familie R. aus Dortmund, damit ihr Sohn leben kann. Cornelia R. hat ihre Arbeitszeiten reduziert und unterrichtet ihn zu Hause, ihre Töchter treffen ihre Freunde draußen, und ihr Mann macht nur noch im Freien Sport. Sie tragen überall Maske, duschen, sobald sie heimkommen. Denn der Zwölfjährige hat einen seltenen Immundefekt, der dafür sorgt, dass sich immer wieder Tumore bilden. Sein Immunsystem ist schwer angeschlagen. „Die Ärzte wollen ihn noch nicht wieder zur Schule gehen lassen“, sagt R. Ein Leben auf Sparflamme. Aber es ging ihnen gut damit. Bis die Maskenpflicht fiel.
Seitdem wird die Angst um ihren Sohn größer – und der Tag, an dem er wieder zur Schule gehen kann, ist in weite Ferne gerückt. „Wir hatten mal angepeilt, dass er nach den Osterferien wieder geht“, sagt R. „Doch das ist unmöglich geworden. Jeder Öffnungsschritt ist für uns eine Katastrophe.“
Ähnlich geht es Familie S. aus Dortmund. Als Corona sich in ihr Leben schlich, verlor Ole S. den Anschluss in der Schule. Der 18-Jährige sollte nicht mehr hingehen, schon bevor der erste Lockdown kam. Während 2020 alle noch fröhlich Karneval feierten, traute sich Ole nur noch mit FFP2-Maske vor die Tür. Das Virus ist gefährlich für ihn, denn er leidet unter Diabetes Typ 1, hat eine Behinderung und mehrere Vorerkrankungen. Dabei wollte er bald sein Abitur machen, seinen Schnitt von 1,3 halten, mit Freunden weggehen. Doch das funktionierte nicht. Seine Noten verschlechterten sich, es gab kaum Videokonferenzen, in denen er sein Können unter Beweis stellen konnte.
Seine Mutter Anke S. hatte große Angst um ihn, doch sie schickte ihn irgendwann wieder in die Schule. „Es hat zu Hause einfach nicht funktioniert“, sagt sie: „Ihm ging es nicht gut ohne die sozialen Kontakte.“Wenn er im Klassenraum saß, fühlte er sich sicher damit, dass alle anderen auch eine Maske trugen. Diese Sicherheit gibt es jetzt nicht mehr.
Familie R. und S. gelten als sogenannte Schattenfamilien, also Familien, die mindestens ein vorerkranktes schulpflichtiges Kind haben und in der Öffentlichkeit wenig beachtet werden. Dabei stehen sie bei Weitem nicht nicht alleine da. Rund 450.000 Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 17 Jahren in Deutschland haben laut dem Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung eine Covid-19-relevante Vorerkrankung. Dazu zählen unter anderem Diabetes, Adipositas, angeborene Herzfehler und chronische Lungenerkrankungen. Die Zahl entspricht rund elf Prozent dieser Altersgruppe. Ihnen wurde im Juli 2021 von der Ständigen Impfkommission (Stiko) empfohlen, sich impfen zu lassen.
Dazu kommen rund 200.000 Kinder mit Vorerkrankung unter zwölf Jahren, die der Bundesverband der Kinderund Jugendärzte nennt. Auf die Frage, wie viele Familien mit vorerkrankten Kindern es denn in NordrheinWestfalen gebe, konnte das NRWSchulministerium keine Angaben machen. Zahlen dazu würden auch aus Datenschutzgründen nicht erhoben. „Nach Rückmeldungen aus der Schulaufsicht handelt es sich bei der Gruppe der Betroffenen jedoch um sehr wenige Schülerinnen und Schüler“, hieß es in der Antwort auf eine Anfrage unserer Redaktion: „Auch ist die Zahl der Problemanzeigen hierzu im Verlauf der Pandemie deutlich zurückgegangen.“
Pädagogin Isabel Ruland aus Bonn kann nicht fassen, dass das Ministerium keine genauen Zahlen vorlegen kann. „Das zeigt, wie wenig sich die Politik mit dem Thema auseinandersetzt“, sagt die Mutter von zwei Kindern. Sie selbst ist nicht betroffen, engagiert sich aber schon seit vielen Jahren in der Elternarbeit und setzt sich in mehreren Initiativen für Schattenfamilien ein, demonstriert mit ihnen, macht in den sozialen Medien auf sie aufmerksam. Darüber ist sie auch mit jungen Menschen in Kontakt gekommen, die sich in der Schule nicht mehr sicher fühlen.
Eine von ihnen ist Genoveva Jäckle, 27 Jahre alt, Berufsschülerin. Sie hat manchmal das Gefühl, dass sich ihre Geschichte wiederholt. Als sie im Februar 2020 zum ersten Mal mit FFP3-Maske einkaufen ging, habe ihr jemand „Maskenspinner“hinterhergerufen. Sie wurde schief angeschaut, angefeindet. Bis die Maskenpflicht eingeführt wurde. Im April 2022 fragt Jäckle eine Lehrkraft in ihrer Berufsschule in Köln, ob sie den Mund-Nasenschutz im Unterricht nicht weiter tragen könne. Aus Solidarität. Die Lehrkraft habe ihr geantwortet: „Lass erst einmal deine Angststörung behandeln.“Jäckle muss es so hinnehmen. Dabei ist sie auf die Solidarität ihrer Mitmenschen angewiesen. Infiziert sie sich mit dem Virus, stirbt sie.
Denn auch Jäckle hat eine schwere Vorerkrankung. Mit 19 bekam sie die Diagnose metastasierender Bauchspeicheldrüsenkrebs. Da hatte sie schon seit zwei Jahren ständig Bauchschmerzen, war bei vielen Ärzten. In der Pubertät sei das normal, habe ihr einer gesagt. Bis man herausfand, dass es Krebs war und dass er bereits gestreut hatte. Heute ist sie seit etwas mehr als einem Jahr in Remission, das heißt, die Krebszellen sind soweit zurückgegangen, dass sie nicht mehr nachweisbar sind. „Das habe ich einer Medikamentenstudie zu verdanken“, sagt Jäckle. „Die hat mich gerettet.“Vorerst.
Ihre Lunge ist durch die Erkrankung schwer vernarbt. Infiziert sie sich mit Corona, ist die Gefahr groß, dass sie eine Embolie entwickelt. Und: Bei den meisten Teilnehmenden der Medikamentenstudie sei der Krebs zurückgekehrt, sobald sie sich mit dem Virus angesteckt haben. Jäckle lebt deshalb seit mehr als zwei Jahren mit ihrem Partner Raphael J. im privaten Lockdown. „Es ist anstrengend und wir sind beide müde, aber es hilft ja nichts“, sagt Jäckle. Wenn sie die Schwiegereltern im Untergeschoss besucht, tragen alle Maske. „Da musste ich meine Eltern auch erst einmal dran gewöhnen“, sagt Raphael J. Seine Mutter arbeitet in einer Kindertagesstätte und könnte das Virus jederzeit mit nach Hause bringen.
Doch Jäckle versucht, sich schöne Momente zu schaffen. Pflegt ihre Zimmerpflanzen, geht einmal die Woche mit Hunden aus dem Tierheim spazieren, kocht mit ihrem Freund. „Da merke ich, dass das Leben doch noch schön ist“, sagt sie. Ihr größter Traum ist es, mit ihrem Freund nach Italien auf einen abgelegenen Campingplatz zu fahren. Sie weiß nicht, ob das in diesem Jahr schon klappen wird. Aber sie wird an der Hoffnung festhalten. Auch, wenn es noch Jahre dauern sollte.
Das will auch Cornelia R. tun. „Mein Sohn ist äußerlich unversehrt, er spielt Tennis und hat Freunde“, sagt sie: „Wenn es ihm irgendwann besser geht, kann er befreiter leben.“Doch wann das sein wird, kann noch niemand sagen. Bis dahin erhofft sich R. Verständnis. Dafür, dass die Familie sich isoliert, weiterhin Maske trägt und alles desinfiziert. „Unsere Familie, meine Kollegen und engen Freunde verstehen das auch, aber im etwas weiteren privaten Umfeld wird das schon schwieriger“, sagt R. Da komme häufiger die Frage auf, ob denn nicht mal langsam gut sei.
Auch Anke S. kennt diese Fragen. „Nein, es ist nicht langsam mal gut“, sagt sie. Ihr Sohn hat das Abitur zwar geschafft und studiert. Doch wie es bis dahin gelaufen ist, hat sie beide aufgewühlt. „Solange ein Kind vom Präsenzunterricht befreit ist, muss es alle paar Wochen nachweisen, dass es chronisch krank ist“, sagt sie. Das könne nicht sein. Eine chronische Erkrankung verschwinde doch nicht mit der Zeit, die sei eben immer da. Das NRW-Schulministerium sieht das anders: „Es ist angesichts der Bedeutung der Schulpflicht geboten, dass Schulen die Entbindung von der Verpflichtung zur Teilnahme am Präsenzunterricht in angemessener Weise befristen und für Folgeanträge die Erbringung eines Nachweises über das Fortbestehen einer relevanten Erkrankung verlangen“, heißt es. Da sich das Infektionsgeschehen regelmäßig verändere und es immer wieder neue wissenschaftliche Erkenntnisse gebe, könne sich die Gefährdungslage für vorerkrankte Kinder verändern. Es müsse regelmäßig abgewogen werden zwischen Schulpflicht und individuellem Gesundheitsschutz.
Anke S. kritisiert auch, dass sie zu Beginn der Pandemie viel Geld in FFP2-Masken investieren musste, weil sie da noch sehr teuer waren und ihr Sohn zeitweise bis zu drei Stück am Tag gebraucht hat. „Ein Schultag ist lang, und irgendwann feuchten die Masken durch“, sagt sie. Irgendwann begannen sie, sie auszulüften und zweimal zu verwenden. S. hätte sich gewünscht, dass das Land kostenlose FFP2Masken zur Verfügung stellt, damit jeder sich so gut es geht schützen kann. „Manche Familien konnten das finanziell gar nicht stemmen“, sagt sie. Doch auf Anfrage weist das Schulministerium die Verantwortung von sich. Die Eltern seien laut Paragraf 41 Absatz 1 des Schulgesetzes dafür zuständig, ihre Kinder für die Schule angemessen auszustatten. Dazu zählten auch Coronaschutzmasken.
Es gibt gute Gründe dafür, dass Cornelia R. und Anke S. nicht ihre vollen Namen preisgeben möchten. „Mein Sohn soll irgendwann ein ganz normales Leben führen können, ohne Anfeindungen“, sagt R. Und S.‘ Sohn hätte zu ihr gesagt: „Mama, dann reden die Leute wieder hinter meinem Rücken über mich und schauen mich komisch an. Das möchte ich nicht mehr.“Ruland kann das gut nachvollziehen: „Die Familien sind müde, sie kämpfen sowieso den ganzen Tag und haben keine Kraft mehr, sich auch noch gegen Anfeindungen zu wehren“, sagt sie. Dabei sei es so wichtig, dass sie sich bemerkbar machten. Die Pädagogin ist der festen Überzeugung: Schattenfamilien müssen ans Licht.
„Jeder Öffnungsschritt ist für uns eine Katastrophe“Cornelia R. Mutter eines chronisch kranken Kindes
„Manche Familien konnten das finanziell gar nicht stemmen“Anke S. Mutter eines chronisch kranken Kindes