Die Suche nach Frieden
Russland führt seinen Angriff auf die Ukraine unbeirrt fort, die europäische Ordnung droht zu zerbrechen. Welche Visionen eines neuen Miteinanders gibt es? Oder folgt ein neuer Kalter Krieg in Europa?
Das Thema Frieden ist in diesen Tagen dauerpräsent. Da gibt es Benefizspiele bei Bundesligisten, da läutet die „Peacebell“in der Dresdner Frauenkirche, da ruft der Papst zum Friedensgebet. „Peace“ist plötzlich nicht mehr nur das unbedachte Victoryzeichen mit den Fingern, das Weiße-Tauben-Emoji in Chats, das kreisförmige Symbol, aus modischen Gründen als T-Shirt oder Kette um den Hals getragen. Frieden, das steht im Frühjahr 2022 außer Frage, ist wieder realer Wunsch geworden.
Der Schrecken des Krieges nährt dieses Bedürfnis mit jedem Tag mehr. Gut zwei Monate nach Beginn des Angriffs Russlands auf ein Land, nur zwei Flugstunden von Berlin entfernt, sind die grauenvollen Bilder und Berichte Alltag, die Brennpunkte im Fernsehen Standard geworden. Aber die Debatte um deutsche Waffenlieferungen treibt die Sorge vor weiterer Eskalation voran. Düstere Szenarien werden durchgespielt, ein Dritter Weltkrieg scheint möglich. Es geht um Kriegshandlungen, Kriegsbeteiligungen und Kriegsverbrechen.
Was fehlt, auch weil er so weit weg scheint, ist die Frage nach Frieden. Welche Formen von Frieden in Europa sind möglich, wahrscheinlich? Muss sich das Verständnis von Frieden ändern, oder ist er längst Utopie? Steht dem Westen womöglich ein Kalter Krieg 2.0 bevor?
Rafael Biermann, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Jena, befürchtet einen langfristigen Konflikt. Denn in solchen Territorialkonflikten würden die Konfliktparteien oftmals keine Kompromissmöglichkeit sehen, „auch wenn Außenstehende, wie wir in Westeuropa, das anders sehen“. Biermann, dessen Schwerpunkte internationale Konfliktbearbeitung und Osteuropa sind, sagt: „Es geht um Heimat, Identität, Existenzielles – und zwar beiden Kriegsparteien.“Die Hälfte solcher Konflikte ende mit Sieg und Niederlage, und auch in diesem Krieg seien wir von einem Kompromissfrieden, für den beide Seiten Opfer bringen müssten, weit entfernt. Ein sogenannter „hurting stalemate“– ein Stillstand, der so schmerzlich ist, dass er zum Einlenken motiviert – sei bislang nicht erreicht.
Die Gewaltspirale dreht sich womöglich weiter, das ist ein Unterschied zum alten Ost-West-Konflikt des 20. Jahrhunderts. Der Politologe Peter Graf Kielmansegg schrieb dazu in einem Gastbeitrag in der „FAZ“: „Die Sowjetunion war, jedenfalls in ihren späten Jahren, ungeachtet ihrer Herrschaftsideologie faktisch eine Status-quo-Macht. Dass Russland Putins ist keine Status-quoMacht mehr. Es ist eine nuklear bewaffnete Großmacht, die ihren Herrschaftsbereich ausweiten und ihre Grenzen, so wie sie sich in frei getroffenen Entscheidungen der Völker des ehemaligen sowjetischen Imperiums herausgebildet haben, verschieben will.“
Was Sieg ist, und in dem Sinne auch was Frieden ist, ist also auch abhängig von Putins Wahrnehmung. Was er als Sieg betrachtet, was ihn motiviert, den Krieg auszuweiten in Richtung Moldau oder Baltikum, muss sich nicht mit der Einschätzung des Westens decken. Anders als nach 1945 gibt es keine Mauer, die sich wie eine Grenze durch Deutschland und Europa zieht. Putins Ansprüche sind grenzenlos. An einem Konsens, den es im Kalten Krieg gab, hat er kein Interesse. Auch dienen schlimmstenfalls Nuklearwaffen nicht nur als Drohgebärde. Die Ausgangslage heute ist weit ungünstiger als damals. Die Aussicht auf Frieden schlechter.
Biermann sieht zwei mögliche Konfliktlösungen: erstens ein umfangreiches Friedensabkommen mit Lösung aller offenen Streitfragen. Zweitens, und das hält er für wahrscheinlicher: ein Waffenstillstand. Das jedoch ist nicht mehr als „negativer Frieden“, die bloße Abwesenheit von Gewalt. Ein trügerischer Zustand, weil er zunächst allgemeine Erleichterung hervorruft, aber langfristig zumeist bröckelt: „Weil keine Partei wirklich zufrieden ist, würde sich wieder eine gefährliche Grauzone bilden, die immer einlädt zur Intervention – welcher Art auch immer.“Im Grunde genau wie in den vergangenen acht Jahren, als die Minsk-Abkommen scheiterten und in einen „low intensity conflict“, einen niedrigschwelligen Konflikt, mündeten, erklärt Biermann.
Entscheidend für die Friedensperspektive in Europa ist die Entwicklung in Russland: Kann es mit Putin als internationaler Persona non grata noch Verhandlungen und Abkommen geben? Notwendigerweise ja, meint Biermann, wie der bereits etablierte „heiße Draht“zwischen Moskau und Washington zeige. Vorerst gehe es um eine Eindämmung Russlands, ähnlich wie nach 1945: „Das Vertrauen ist völlig zerbrochen. Selbst zaghafte Schritte zu Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle brauchen Zeit.“Aber wäre ein Russland ohne Putin ein substanziell anderes? Oder müsste dazu die russische kosmopolitische Elite, die Europas Werte teilt, nicht längst ihre Stimme erhoben haben? „Es ist jetzt wichtig, an unseren Werten festzuhalten, nicht davon abzurücken“, sagt Biermann: „Das ist es, wovor Putin vor allem Angst hat – dass Demokratie und Menschenrechte, so wie 1989, sich als stärker und attraktiver erweisen. Nicht die Nato ist die primäre Bedrohung für Putin.“
Es kommt also jetzt darauf an, keine pauschalen Feindbilder zu etablieren, Russland und seine Gesellschaft nicht zu isolieren. Umso stärker gilt es, für universale Werte bei jenen zu werben, die offen dafür sind. Wechselseitige Sozialisation zuzulassen – das fängt bei der Sprache an und hört beim Einkauf in russischen Supermärkten nicht auf. Jeder kann etwas dafür tun, gesellschaftlichen Frieden zu ermöglichen, solange der politische in weiter Ferne ist.
Jeder kann etwas dafür tun, gesellschaftlichen Frieden zu ermöglichen, solange der politische in weiter Ferne ist